Dracula, my love
Seelen sich in Gefahr begaben! Ich lag im Bett und dachte über alles nach, was bisher geschehen war, auch über das Schicksal der armen Lucy. Oh! Wäre ich nur nicht nach Whitby gereist, hätte nie mit Lucy diesen Kirchhof auf der Klippe besucht, dann hätte Lucy vielleicht nicht mit dem Nachtwandeln wieder angefangen, und dieses Scheusal hätte sie nicht zu Grunde richten können. Ich vergoss bittere Tränen um meine liebe, verstorbene Freundin und tadelte mich dann, dass ich geweint hatte. Wenn Jonathan von diesen Tränen erführe, würde er sich unendlich sorgen.
Plötzlich hörte ich Hunde bellen, danach merkwürdige, beinahe aufgeregte Laute von Herrn Renfields Zelle her, die ein Stockwerk unter meinem Zimmer lag. Darauf folgte ein gespenstisches Schweigen. Ich erhob mich, ging zu der hohen Fenstertür und schaute über den schmalen Balkon hinweg auf den Park. Draußen war alles dunkel. Nichts schien sich zu regen.
Dann wurde ich in den Schatten, die das Mondlicht auf das Gras warf, eines dünnen Streifens weißen Nebels gewahr, der fast unmerklich über den Rasen gekrochen kam. Der Nebel breitete sich immer weiter aus und war nun ganz nahe am Haus, schmiegte sich so dicht an die Mauer, als wollte er sich zum Fenster von Herrn Renfields Zimmer hereinstehlen. Dann löste er sich langsam in der Nachtluft auf.
Nun wurden die erstickten Schreie des Patienten lauter als je zuvor, und obwohl ich keines seiner Worte verstand, konnte ich doch dem Tonfall entnehmen, dass er flehentlich um etwas bat. Anschließend meinte ich Kampfgeräusche zu vernehmen. Plötzlich überkam mich große Angst, wenn ich auch den Grund dafür nicht zu begreifen vermochte. Doch ich nahm an, dass die Wärter sich um Herrn Renfield kümmerten und er keinerlei Gefahr für mich darstellte.
Ich kontrollierte, ob das Fenster geschlossen und die Tür sicher verriegelt war. Dann kroch ich in mein Bett zurück und zog mir die Decke über den Kopf. Lange lag ich zitternd da im Finstern, wusste nicht, warum mich so plötzlich die Furcht überwältigt hatte, und wünschte mir, dass die Männer nicht alle fortgegangen wären und mich mutterseelenallein zurückgelassen hätten. Schon bald hatte ich das Gefühl, dass die Luft im Zimmer irgendwie drückend geworden war und nun feucht und kalt schien.
Ich schlug die Bettdecke von meinem Gesicht zurück und setzte mich auf. Zu meiner Überraschung füllte sich der Raum gerade mit einem weißen Nebel, den ich durch die Türritzen hereindringen sah. Mein Herz begann entsetzt und verwirrt zu pochen, während ich den Nebel dicker und immer dicker werden sah, bis er sich zu einer Art Wolkensäule mitten im Zimmer zu verdichten schien. Was war das? Was geschah hier? Plötzlich packte mich ein jäher Schrecken. Ich dachte daran, dass Jonathan jene entsetzlichen Vampirweiber auf Burg Dracula auf dieselbe Art und Weise erschienen waren. Auch sie hatten sich im Mondlicht aus einem wirbelnden Nebel materialisiert.
Dann nahm vor meinen entsetzten Augen die gespenstische Nebelsäule die Form und Gestalt eines jungen Mannes an.
Es war Herr Wagner.
Ich wollte schreien, konnte aber nicht. Meine Gliedmaßen waren schwer wie Blei, ich vermochte mich nicht zu regen. War ich von Sinnen? Träumte ich? Wie konnte Herr Wagner plötzlich vor mir aus einem Nebel auftauchen?
„Bitte ängstigen Sie sich nicht“, sagte er leise.
Ich war so benommen, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sicherlich, man konnte sich gut Geschichten von Lebewesen anhören, die aus einem Nebel oder aus der puren Luft auftauchten. Doch nun, da ich es tatsächlich mit eigenen Augen sah, erstarrte ich vor Angst und zweifelte gar an meinem Verstand!
Plötzlich stürzte ein wilder Wirbel von Erinnerungen und Bildern über mich herein: Hatte ich nicht Herrn Wagner genau an jenem Tag kennengelernt, als die Demeter in Whitby eingetroffen war? Mit welcher Geschwindigkeit hatte er sich bewegt, als er meinen davongeflogenen Hut gerettet hatte! Er hatte in meiner Gegenwart niemals gegessen oder getrunken. Er hatte sich anscheinend nicht im Wasser des Flusses gespiegelt. Und mit welch beinahe magischer Kraft vermochte er wildfremde Menschen von seinem Willen zu überzeugen. Wie kühl hatten sich seine Finger stets auf meiner Haut angefühlt! Wie glühend war der Blick in seinen Augen gewesen, als er auf meine Kehle starrte, ehe er mich von sich stieß. Wie gut hatte er in der Dunkelheit die Hausnummern in Belgravia lesen können. Was für eine
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