Dracula, my love
sich im Laufe des Morgens der Himmel wieder ein wenig zugezogen hatte, versprach der Tag doch schön zu werden. Ich verspürte das starke Bedürfnis, zu unserer Lieblingsbank oben auf der Ostklippe zu gehen, um dort zu lesen und zu schreiben. Rasch überprüfte ich noch im Spiegel mein Aussehen, strich den schlichten Rock und die Jacke aus amethystfarbenem Piqué glatt, zupfte das Jabot meiner weißen Bluse zurecht und versicherte mich, dass mein braunes Haar ordentlich unter meinem Strohhut verwahrt war. Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass ich respektierlich aussah, nahm ich ein Buch und mein Tagebuch, umarmte meine Feriengenossinnen zum Abschied und machte mich mit einem seltsamen Gefühl der Erwartung, das ich mir nicht erklären konnte, auf den Weg.
Der Wind wehte kräftig, als ich den Kirchhof überquerte und an den Grabsteinen vorüberging, die der Regen der vergangenen Nacht saubergewaschen hatte. Ich sog die Luft in tiefen Zügen ein, genoss den Duft von nassem Kies, Steinen, Erde und Gras. Aus unerfindlichem Grund überkam mich nun schon zum zweiten Male an jenem Morgen das seltsame Gefühl, als beobachtete mich jemand. Doch wiederum konnte ich, als ich mich umschaute, nichts Außergewöhnliches feststellen.
Wie üblich spazierten Menschen allen Alters und aller Schichten hier oben umher, plauderten und lachten. Wären die vielen Pfützen nicht gewesen, die sich überall am Rand des Spazierwegs gebildet hatten, so hätte nichts darauf hingedeutet, dass in der Nacht zuvor ein Unwetter gewütet hatte, ein Sturm, der ein Schiff mit einer Geisterbesatzung an den Strand warf.
Zu meiner Freude fand ich meine Lieblingsbank leer vor. Ich setzte mich hin und ergötzte mich an der Schönheit des Anblicks, der sich tief unten bot. Das Sonnenlicht tanzte auf dem sich ständig verändernden tiefblauen Meer, und die Wellen krachten mit hohen, schäumenden weißen Kämmen an den Strand, die Hafenmauern und auf die entfernte Landspitze. Ich dachte an Jonathan. Ich betete, er möge in Sicherheit sein.
Als ich gerade meinen Füllfederhalter zur Hand nehmen wollte, um mit einem Tagebucheintrag zu beginnen, frischte plötzlich ohne jede Vorwarnung der Wind auf und wehte mir den Hut vom Kopf. Gerade eben hatte mein Strohhut noch fest auf meinem Haar gesessen, und nun flog er schon durch die Lüfte, schlug Purzelbäume und rollte in wilden Kreisen über den Spazierweg.
Bestürzt sprang ich auf und hastete hinter meiner entfliehenden Kopfbedeckung her. Trotz ernsthafter Bemühungen meinerseits, den Hut wieder einzufangen, entzog er sich ärgerlicherweise immer um wenige Zentimeter meinem Griff. Er bewegte sich geradewegs auf den gefährlichsten Abschnitt der Klippe zu, jenen Teil, an dem die Böschung abgebröckelt war und wo ganz weit unten einige Grabsteine, die herabgestürzt waren, aus dem Sand herausragten. Wenige Schritte vom Rand der Klippe entfernt, hielt ich inne, war mir nun sicher, meinen Hut für immer verloren zu haben. Denn in wenigen Augenblicken würde er über den Rand der Klippe fliegen und im tiefen Meer sein Ende finden.
Plötzlich raste eine hoch aufgeschossene Gestalt an mir vorüber und packte meinen Hut, als der gerade hinuntersegeln wollte. Nie zuvor hatte ich ein menschliches Wesen sich so rasch bewegen sehen. Doch dann kehrte derselbe Herr mit ruhigem Selbstbewusstsein und der Eleganz eines Panters an meine Seite zurück und reichte mir seine Beute.
„Ist das Ihr Hut, Fräulein?“, erkundigte er sich mit sonorer Stimme, die ein kaum merklicher ausländischer Akzent noch interessanter machte.
Ich starrte ihn an, plötzlich um Worte verlegen. Es war ein junger Herr, kaum älter als dreißig Jahre. Er war groß, schlank und außerordentlich attraktiv, mit einer edlen Nase, vollkommenen weißen Zähnen und einem rabenschwarzen Schnurrbart, der zu seinem Haar passte. Als er zu mir herunterlächelte, fesselte mich die Macht seiner dunkelblauen Augen, die gleichzeitig durchdringend und unwiderstehlich waren. Er war makellos gekleidet, trug einen knielangen Gehrock, schwarze Krawatte, schwarze Weste und Hose, dazu ein schneeweißes Hemd. Seine Kleidung umhüllte perfekt seine edle Gestalt, und an den Stoffen und der feinen Verarbeitung war sogleich zu sehen, dass er ein wohlhabender Mann sein musste. Sein Antlitz leuchtete vor Gesundheit. Seine Züge und seine Gestalt waren wahrhaftig die Verkörperung all dessen, was man als männliche Schönheit bezeichnen mochte. Einen atemlosen Augenblick lang
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