Dracula, my love
Über die Entstehung der Arten . Eine höchst interessante Wahl.“
„Sind Sie damit vertraut?“
„Gewiss. Es ist ein grundlegendes Werk der wissenschaftlichen Literatur.“
„Ich finde Darwins Evolutionstheorie außerordentlich interessant. Der Gedanke, dass sich Populationen im Laufe der Generationen durch einen Prozess natürlicher Auslese weiterentwickeln ...“
„... Und dass nur die Stärksten überleben ...“
„... Und neue Arten bilden ...“
„Ja!“, erwiderte er angeregt. „Diesen Gedanken gab es schon lange, bevor Charles Darwin sein Buch veröffentlichte. Manche haben dieses Konzept gar bis zu Aristoteles zurückverfolgt. Aber Darwins Theorien haben nun endlich die breite Öffentlichkeit damit bekannt gemacht.“
„Was für einen hitzigen Disput dieses Buch ausgelöst hat!“
„Was nicht überrascht. Darwins Theorie hat viele lang überlieferte religiöse Doktrinen in Frage gestellt ...“
„... Zum Beispiel die Schöpfungsgeschichte ...“
„... Und die so hochgeschätzte Überlegenheit des Menschen über die Tierwelt.“
„Ich nehme an, für manch einen war es ein großer Schock“, sagte ich mit einem Lächeln, „nur in Erwägung zu ziehen, dass der Mensch nicht mehr die unangefochtene Krone der Schöpfung ist.“
„Wahrhaftig, ja. Wir sind nur ein Glied in einer langen Kette.“ Er erwiderte mein Lächeln und fügte hinzu: „Ihre Lektüreauswahl fasziniert mich. Ich hätte erwartet, dass eine junge Dame wie Sie sich eher für populäre Romane als für die Theorie der Evolution interessierte.“
„Oh, aber diese Romane liebe ich ebenfalls! Ich habe beinahe alles gelesen, was Charles Dickens, George Eliot und Jane Austen verfasst haben, und Charlotte Brontës Jane Eyre habe ich wohl ein gutes Dutzend Mal verschlungen.“
„Ich habe die Werke dieser Autoren ebenfalls sehr genossen. Lesen Sie auch Gedichte?“
„Ja. Ich glaube, dass eine Szene in Sir Walter Scotts Marmion genau hier, in der Abtei von Whitby, spielt.“
„Ja. Eine Nonne wurde bei lebendigem Leibe eingemauert, weil sie ihr Gelübde gebrochen hatte.“
„Genau! Scott hat mit solcher Leidenschaft geschrieben, nicht?“
„Und in einer so wunderbaren Sprache: „›Oh, was für ein verstricktes Netz wir weben ...‹“
Wir beendeten das Zitat wie aus einem Munde: „›... wenn wir zuerst die Täuschung üben.‹“ *
*) Aus Sir Walter Scotts Versepos Marmion, Teil 6, Strophe 17. (Anm. d. Übers.)
Wir lachten zusammen. Während wir weiterredeten und über unsere Lieblingswerke von Shakespeare, Wordsworth und Byron sprachen, lief mir ein kleiner Schauer über den Rücken. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich zuletzt ein so interessantes Gespräch mit einem Mann, genau genommen, mit irgendjemandem geführt hatte. Lucy hatte nie besonders gern gelesen. Die anderen Lehrerinnen an der Schule waren im Allgemeinen zu müde und überarbeitet gewesen, um in ihrer Freizeit zum Vergnügen zu lesen. Und obwohl Jonathan literarisch gebildet war und gern las, beschränkte sich seine Lektüre heutzutage doch hauptsächlich auf Zeitungen, Zeitschriften und juristische Fachblätter.
Nun näherten wir uns der Marienkirche. „Was für eine interessante Kirche“, meinte mein Begleiter, während er in einen Seitenweg einbog, der von der Kirche wegführte. „Sie ähnelt eher einer Burg oder einer Zitadelle als einem Gotteshaus.“
„Hatten Sie schon Gelegenheit, in die Kirche hineinzugehen, Sir? Das Innere ist ganz anders als das Äußere und wirklich sehr schön.“
„An einem so herrlichen Tag wie heute möchte ich lieber im Freien bleiben, wenn Sie nichts dagegen haben.“
Ich hatte keine Einwände. Während wir weiter auf die Abteikirche zugingen, meinte er: „Für eine so junge Person haben Sie ein außerordentlich breit gefächertes literarisches Wissen. Haben Sie all das in der Schule gelesen?“
„Ja, das habe ich. Ich hatte das Glück, eine Schule zu besuchen, die über eine hervorragende Bibliothek verfügte. Später habe ich an der gleichen Einrichtung selbst unterrichtet. Wie steht es mit Ihnen? Wurden Sie hier in England erzogen?“
„Nein. Dies ist mein erster Besuch in Ihrem Land.“
„Ihr erster Besuch? Das ist bemerkenswert, Sir, denn Ihr Englisch ist ausgezeichnet, um nicht zu sagen perfekt.“
„Ich lerne Ihre Sprache nun schon sehr lange, und ich hatte einige Lehrer ... Aber ich weiß, dass ich noch der Verbesserung bedarf.“ Er lächelte bescheiden und fügte hinzu: „Sie
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