Dracula, my love
Ein kaltes Schaudern durchlief mich. Dann musste ich über meine Narrheit lachen. Es war gewiss nur die wässrige Sonne des Spätnachmittags, die Lichtkringel auf die schmutzigen Scheiben malte.
Ich wandte mich von dem alten Anwesen ab und spazierte über die schmale Allee zur Hauptstraße. Fünfzehn Minuten später hatte ich den Ortskern von Purfleet erreicht. Da Dr. Seward und ich vom Bahnhof geradewegs zu seinem Haus gefahren waren, hatte ich nur einen flüchtigen Blick auf das hübsche Dörfchen an der Themse und auf die Kreidefelsen in der Ferne werfen können. Nun sah ich, dass es ein sehr idyllischer Ort war, ein Dörfchen mit einigen wenigen verstreuten Häuserreihen, mehreren kleinen Geschäften und einem Royal Hotel, das „Weltberühmte Fischgerichte“ anpries. Ansonsten war nichts von großem Interesse zu erspähen, das mich längere Zeit beschäftigt hätte.
Als ich mich dem Bahnhof näherte, überholte ich eine junge Frau, die ein kleines Mädchen an der Hand führte. Aus ihrem Gespräch wurde klar, dass es sich um Mutter und Tochter handelte und dass sie sehr vertraut miteinander waren. Neid ergriff mich bei diesem Anblick. Meine Gedanken wanderten zu dem Brief meiner Mutter Anna, den ich inzwischen beinahe auswendig hersagen konnte. „Ich habe deinen Vater geliebt. Er hieß Cuthbert. Ich glaube, er hat mich wirklich eine Zeitlang ebenso geliebt. Ich war damals Hausmädchen in Marlborough Gardens, Belgravia. Die beiden Jahre dort waren die glücklichsten meines Lebens ...“
Plötzlich ertönte ein schriller Pfiff, und ein Zug hielt am Bahnsteig. Ich sah, dass er nach London weiterfuhr. Es war keine lange Reise. Bis zum Abendessen hatte ich noch mehrere Stunden Zeit. Mir wurde klar, dass ich in die Stadt fahren und zurückkehren konnte, ehe mich überhaupt jemand vermissen würde. Ich könnte versuchen, Marlborough Gardens in Belgravia zu finden, die Straße, wo meine Mutter gelebt und gearbeitet hatte, als sie sich in meinen Vater verliebt hatte und ich gezeugt worden war.
Ohne weiteres Überlegen eilte ich zum Fahrkartenschalter, erwarb ein Billett und stieg atemlos in den Zug. In einem leeren Abteil setzte ich mich auf einen Fensterplatz. Wenig später hörte ich den Dampf zischen, als der Zug sich schnaufend in Bewegung setzte. Ein Mann in Uniform überprüfte mein Billet und zog sich zurück. Gedankenverloren saß ich da und schaute auf die vorüberziehende Landschaft. Da hörte ich, wie die Abteiltür aufgeschoben wurde.
Ich blickte auf den Neuankömmling - und mir blieb beinahe das Herz stehen.
Es war Herr Wagner.
Einen Augenblick lang verschlug es mir den Atem.
Herr Wagner trat zwei Schritte in das Abteil hinein und hielt dann inne. Er starrte mich ungläubig an. Seit unserem letzten Treffen hatte ich so oft an ihn gedacht, mir jede Einzelheit seines anziehenden Gesichts und seiner Gestalt ins Gedächtnis gerufen und mich jedes Mal gefragt, ob ich ihn mir in der Erinnerung vollkommener vorstellte, als er in Wirklichkeit war. Jetzt wurde mir klar, dass ich ihm in meinen Gedanken nicht gerecht geworden war. Oh, wie wunderbar war es, dieses liebe Gesicht wiederzusehen! Wie immer trug er einen schwarzen Gehrock und hatte sich dazu noch einen herrlichen langen schwarzen Umhang lässig über die breiten Schultern geworfen.
„Ich dachte mir doch, ich hätte von meinem Fenster aus gesehen, wie Sie in den Zug einstiegen.“ Seine tiefblauen Augen leuchteten und schauten mich glücklich und erstaunt an. „Ich mochte es gar nicht glauben.“
„Herr Wagner“, war alles, was ich hervorbringen konnte. Mein Herz klopfte so heftig, dass ich kaum denken konnte.
„Es ist lange her.“
„Sechs Wochen.“
„Sie haben sie gezählt?“
Röte breitete sich über meine Wangen. Lächelnd fragte er: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
„Bitte.“ Ich deutete auf einen leeren Platz mir gegenüber. Ich glaubte, in einer Art Traum befangen zu sein.
Er setzte sich und schaute mich unverwandt an. Einige Augenblicke vernahmen wir nur das Rattern der Räder unter uns und das rhythmische Schnauben der Lokomotive.
„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte er sich dann.
„Ja. Und Ihnen, Sir?“
„Recht gut.“
In Gedanken hatte ich unzählige Gespräche mit ihm geführt, doch nun, da er mir gegenübersaß, rang ich um Worte. „Ich dachte, Sie wären vielleicht längst nach Österreich zurückgekehrt.“
„Aber nein. Ich habe seit jenem letzten Morgen in Whitby so oft an Sie gedacht. Sind Sie sicher
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