Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Japan erreichen
K aum hatte Peter ihr den Koffer in den Zug getragen, schon schien er es eilig zu haben, wieder auszusteigen. Aber nicht, um wegzugehen. Er erklärte ihr, es sei nur sein dummes Gefühl, der Zug könnte sich in Bewegung setzen. Dann stand er draußen auf dem Bahnsteig, schaute zu ihrem Fenster hoch und winkte. Lächelte und winkte. Das Lächeln für Katy war weit offen, ohne den leisesten Zweifel, als glaubte er, sie werde für ihn immer ein Wunder bleiben, wie auch er für sie. Das Lächeln für seine Frau war eher zuversichtlich und vertrauensvoll, mit einer gewissen Entschlossenheit. Nicht leicht in Worte zu kleiden, vielleicht auch gar nicht. Hätte Greta das zur Sprache gebracht, hätte er gesagt: Sei nicht albern. Und sie hätte ihm beigepflichtet, der Überzeugung, dass es für Menschen, die sich tagein, tagaus sahen, unnatürlich war, sich mit irgendwelchen Erklärungen abzumühen.
Als Peter noch ein Baby war, hatte seine Mutter ihn über mehrere Berge getragen, deren Namen Greta immer wieder vergaß, um ihn aus der kommunistischen Tschechoslowakei hinaus nach Westeuropa zu schaffen. Natürlich waren auch noch andere dabei. Peters Vater hatte vorgehabt, sie zu begleiten, wurde aber kurz vor dem Datum ihrer geheimen Abreise in ein Sanatorium eingeliefert. Er sollte nachkommen, sobald er konnte, doch stattdessen starb er.
»Ich habe solche Geschichten gelesen«, sagte Greta, als Peter ihr zum ersten Mal davon erzählte. Sie erklärte, wie die Babys in den Geschichten anfingen zu weinen und unweigerlich erstickt oder erwürgt werden mussten, damit der Lärm die Flüchtlinge nicht in Gefahr brachte.
Peter erwiderte, solch eine Geschichte hätte er nie gehört, und wollte nicht sagen, was seine Mutter unter solchen Umständen getan hätte.
Was sie tat, war, nach British Columbia zu gehen, wo sie ihr Englisch verbesserte und sich eine Stellung als Lehrerin an einer Highschool besorgte, für ein Fach, das damals Handelskunde hieß. Sie zog Peter allein groß, schickte ihn aufs College, und jetzt war er Ingenieur. Wenn sie zu Besuch kam, in die Wohnung und später in das Haus, saß sie immer im Wohnzimmer und kam nie in die Küche, außer Greta forderte sie dazu auf. So war sie. Sie trieb es auf die Spitze damit, nichts wahrzunehmen. Nichts wahrzunehmen, sich in nichts einzumischen, nichts vorzuschlagen, obwohl sie ihre Schwiegertochter in jeder Haushaltsfertigkeit oder -kunst weit hinter sich ließ.
Außerdem kündigte sie die Wohnung, in der Peter aufgewachsen war, und zog in eine kleinere ohne Schlafzimmer, nur mit Platz für eine Schlafcouch. Also kann Peter nicht mehr nach Hause zu Mutter?, neckte Greta sie, aber das schien sie zu bestürzen. Witze peinigten sie. Vielleicht war es ein Sprachproblem. Doch Englisch war inzwischen ihre gewohnte Sprache, dazu die einzige, die Peter beherrschte. Er hatte Handelskunde gebüffelt – wenn auch nicht bei seiner Mutter –, während Greta sich mit dem
Verlorenen Paradies
auseinandersetzte. Sie mied alles Nützliche wie die Pest. Wie es schien, tat er das Gegenteil.
Mit der Fensterscheibe zwischen ihnen und mit Katy, die nicht zuließ, dass das Winken ermattete, schwelgten sie in Mienen von komischem oder sogar groteskem Wohlwollen. Greta dachte, wie gut er aussah und wie wenig ihm das bewusst zu sein schien. Er trug einen Bürstenschnitt, im Stil der Zeit – besonders, wenn man so was wie ein Ingenieur war –, und seine helle Haut rötete sich nie wie ihre, wurde nie fleckig von der Sonne, sondern war zu jeder Jahreszeit gleichmäßig braun.
Seine Ansichten glichen in manchem seinem Teint. Wenn sie ins Kino gingen, wollte er hinterher nie über den Film reden. Er sagte dann, der Film sei gut oder ganz gut oder passabel. Alles Weitere fand er sinnlos. In ganz ähnlicher Weise sah er sich Fernsehsendungen an, las er ein Buch. Er hatte mit solchen Dingen Geduld. Die Leute, die sie herstellten, taten wahrscheinlich ihr Bestes. Greta wollte immer diskutieren, fragte unüberlegt, ob er dasselbe von einer Brücke sagen würde. Die Leute, die sie bauten, taten ihr Bestes, aber ihr Bestes war nicht gut genug, also brach sie zusammen.
Statt zu diskutieren, lachte er einfach.
Das ist nicht dasselbe, sagte er.
Nein?
Nein.
Greta hätte sich klarmachen müssen, dass diese Einstellung – entspannt, tolerant – für sie ein Segen war, denn sie war Dichter, und es gab Dinge in ihren Gedichten, die überhaupt nicht fröhlich oder leicht zu erklären
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