Dracula - Stoker, B: Dracula
Frachtzettel darauf »Galatz via Varna« sagte, dachte ich mir, dann könne sie |507| da gleich stehen bleiben, bis wir sie im Hafen loswerden. Wir haben an dem Tag aber doch nicht mehr viel von unserer Ladung gelöscht und blieben also über Nacht vor Anker. Am Morgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, kam dann so ein Kerl an Bord, der ein Schreiben aus England vorzeigte, dass er eine Kiste abholen darf, die einem Grafen Dracula gehört. Die stand ja nun schon bereit, seine Papiere waren in Ordnung, und ich war herzlich froh, das verdammte Ding loszuwerden, denn mittlerweile war es auch mir nicht mehr geheuer. Hätte der Teufel persönlich sein Gepäck auf meinem Schiff abgeladen, so hätte ich mich nicht schlechter gefühlt.«
»Wie hieß der Mann, der die Kiste in Empfang nahm?«, fragte Dr. van Helsing mit verhaltener Neugier.
»Das kann ich Ihnen gleich sagen«, antwortete der Kapitän. Er stieg in seine Kabine hinunter und brachte sogleich eine Quittung herauf, die mit »Immanuel Hildesheim« unterzeichnet war, Burgenstraße 16 lautete die Adresse. Das war alles, was der Kapitän wusste, und so dankten wir und verabschiedeten uns.
Wir fanden Hildesheim in seinem Büro, einen Juden, wie man ihn auf der Bühne zu sehen bekommt, mit einer großen Nase und einem Fez. Er gab uns zunächst nur in kleiner Münze Auskunft, die wir ihm ebenso heimzahlten, doch nachdem wir ein wenig mit ihm gefeilscht hatten, erzählte er uns schließlich alles, was er wusste. Es war wenig, aber von größter Bedeutung: Er hatte von einem Mr. de Ville aus London einen Brief erhalten mit dem Auftrag, eine Kiste abholen zu lassen, welche auf der »Zarin Katharina« in Galatz ankommen würde. Die Abholung sollte nach Möglichkeit vor Sonnenaufgang erfolgen, um den Zoll zu umgehen. Im Weiteren musste die Kiste dann einem gewissen Petrof Skinsky übergeben werden, der mit den Slowaken in Verbindung stand, welche den Fluss hinunter bis zum Hafen Handel treiben. Hildesheim war für seine Arbeit mit einer englischen Banknote bezahlt worden, die bei der Danube International Bank ordnungsgemäß gegen ihren Goldwert eingewechselt worden war. |508| Skinsky war zu Hildesheim gekommen, und dieser hatte ihn dann gleich selbst mit aufs Schiff genommen, um sich den eigenen Transportanteil zu ersparen. Das war alles, was er wusste.
Wir machten uns nun auf den Weg, diesen Skinsky zu suchen, aber wir konnten ihn nicht auftreiben. Einer seiner Nachbarn, der ihm nicht gerade gewogen schien, sagte, er sei vor zwei Tagen fortgegangen, wohin, das wisse man nicht. Dies wurde von seinem Vermieter bestätigt, dem Skinsky durch einen Boten den Hausschlüssel und die schuldige Miete in englischem Geld übersandt hatte. Das war gestern Nacht zwischen zehn und elf Uhr geschehen – wir waren also wieder an einem toten Punkt angelangt.
Während wir noch mit einigen Leuten im Haus redeten, kam jemand gelaufen und berichtete atemlos, dass man Skinskys Leichnam hinter der Friedhofsmauer von Sankt Peter gefunden habe, seine Kehle sei aufgerissen, wie von einem wilden Tier. Die, mit denen wir eben noch gesprochen hatten, eilten davon, um sich die Bluttat selbst anzuschauen, und die Weiber kreischten: »Das hat ein Slowake getan!« Wir aber machten uns aus dem Staub, weil wir befürchteten, in die Angelegenheit verwickelt und aufgehalten zu werden.
Auf dem Heimweg berieten wir die Sache, konnten uns aber noch zu keinem Entschluss durchringen. Wir sind überzeugt, dass die Kiste auf dem Wasserweg irgendwohin geschafft wurde. Wohin aber, das müssen wir erst noch herausfinden. Mit schweren Herzen kamen wir im Hotel bei Mina an.
In vereinter Runde beschlossen wir darauf als Erstes, Mina wieder völlig ins Vertrauen zu ziehen. Die Dinge stehen nicht gut für uns, sodass wir jede Möglichkeit der Hilfe nutzen müssen, selbst wenn daraus neue Gefahren entstehen könnten. Der gemeinschaftliche Beschluss entband mich von meinem Schweigegelübde ihr gegenüber.
|509| Mina Harkers Tagebuch
30. Oktober, abends
Sie waren alle so müde, erschöpft und entmutigt, dass ihnen keine Arbeit mehr zugemutet werden konnte, bevor sie sich nicht ausgeruht hatten. Ich bat sie deshalb, sich auf eine halbe Stunde niederzulegen, während ich meine Eintragungen bis zur Stunde ergänzen wollte. Ich bin dem Mann, der die Reiseschreibmaschine erfand, sehr dankbar. Und Mr. Morris ebenso, dass er mir eine solche verschaffte. Ich würde verrückt werden, hätte ich all diese Schreibarbeit mit
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