Dracula - Stoker, B: Dracula
darüber zu scherzen. Bald wird der Todesengel für mich seine Posaune ertönen lassen. – Aber nu fangen Sie mal nich’ an zu weinen, meine Liebe!« Er sah, dass mir die Tränen kamen. »Und wenn er heut Nacht noch riefe, so würd’ ich mich nich’ sträuben, seinem Ruf zu folgen. Denn das Leben ist schließlich doch nichts als ein Warten auf etwas anderes, was wir gerade nicht haben, nur der Tod ist etwas, worauf wir uns unbedingt verlassen können. Aber ich bin zufrieden, wenn er zu mir kommt, und er kommt rasch. Er kann schon unterwegs sein, während wir da hinausschauen und nachdenken. Vielleicht kommt er mit dem Wind weit draußen über der See, der Zerstörung, Schiffbruch, Verzweiflung und Trauer bringt. – Doch sehen Sie nur da, sehen Sie!«, unterbrach er sich plötzlich. »Da ist etwas in diesem Wind und in der Luft, das sieht aus und riecht und schmeckt wie der Tod. Er liegt in der Luft, ich fühle ihn kommen. Mein Gott, lass mich zuversichtlich sein, wenn der Ruf an mich ergeht!« Er breitete seine Arme demütig aus, erhob seinen Kopf und bewegte den Mund, als würde er beten. Nach einigen Augenblicken des Stillschweigens erhob er sich, drückte mir die Hand, segnete mich und sagte mir Lebewohl, dann humpelte er davon. All das rührte mich tief und regte mich sehr auf.
Ich war froh, als ein Mann von der Küstenwacht mit seinem Fernrohr unter dem Arm vorbeikam. Er blieb stehen, um mit mir ein paar Worte zu wechseln, wie es hier üblich ist, aber er sah dabei immer wieder hinaus zu einem seltsamen Schiff.
»Ich kann’s nicht genau erkennen«, sagte er, »dem Aussehen nach ist es russisch, aber es schaukelt so eigentümlich herum, als ob die Mannschaft überhaupt keinen Plan hätte. Sie sehen wohl den Sturm kommen, können sich aber nicht recht entscheiden, |113| ob sie nach Norden ins offene Meer sollten oder bei uns festmachen. Sehen Sie nur! Die steuern mächtig komisch, vielleicht gehorcht das Schiff dem Steuermann gar nicht mehr? Jeder Windstoß wirft sie hin und her. Nun, bis morgen um diese Zeit werden wir wohl noch einiges erleben!«
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|114| SIEBENTES KAPITEL
Zeitungsausschnitte aus dem »Dailygraph«
(in Minas Murrays Tagebuch geklebt)
Von einem Korrespondenten
Whitby, den 8. August. Eines der schwersten und überraschendsten Unwetter, an die sich Whitby erinnern kann, hat gestern hier gewütet, und zwar unter seltsamen, einzigartigen Begleitumständen. Das Wetter war etwas schwül, aber keineswegs anders, als man es im August erwarten kann. Samstagabend war es so schön wie je, und der größte Teil der Sonntagsausflügler besuchte gestern Mulgrave Woods, Robin Hood’s Bay, Rig Mill., Runswick, Staithes und die anderen zahlreichen Erholungsorte in der Umgebung Whitbys. Die Dampfer »Emma« und »Scarbo rough « besorgten den Verkehr entlang der Küste, und es war ein ungewöhnlicher Andrang von Ausflüglern. Der Tag war besonders schön, bis nachmittags einige der Spaziergänger, die den Kirchhof am East Cliff zu besuchen pflegen, von dessen mächtiger Höhe aus man einen weiten, prächtigen Rundblick nach Norden und Osten über die See hin genießt, die Aufmerksamkeit auf eine plötzlich hoch am nordwestlichen Himmel auftauchende Sturmwolke lenkten. Der Wind blies sanft aus Südwest; in der Sprache der Meteorologen würde man ihn als »Windstärke zwei, leichte Brise« bezeichnen. Der diensttuende Küstenwart machte sofort Meldung, und ein alter Fischer, der seit mehr als einem halben Jahrhundert vom East Cliff aus auf die Wetterzeichen achtet, sagte in bestimmtester Weise einen schweren Sturm voraus. Der Sonnenuntergang war so prächtig, so grandios in der Fülle reich gefärbter Wolken, dass sich eine große Menge Menschen auf dem alten Friedhof auf der Klippe versammelte, um die |115| Schönheit zu bewundern. Ehe die Sonne hinter den schwarzen Massen von Kettleness versank, das sich scharf vom westlichen Himmel abhob, war ihr Weg von zahllosen Wölkchen übersät, die in jeder nur erdenklichen Farbe schimmerten, in Feuerrot, Purpur, Rosa, Grün, Violett und Gold. Zwischen den Wölkchen hingen schmale Streifen von tiefstem Schwarz und seltsamen Formen, die sich wie ungeheure Silhouetten ausnahmen. Die ansässigen Maler haben sich diese Farbenpracht jedenfalls nicht entgehen lassen, und zweifelsohne werden wir im kommenden Mai einige Bilder des Titels »Vor dem großen Sturm« an den Wänden der Royal Academy of Arts und des Royal Institute erwarten dürfen.
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