Draculas Eisleichen
Schwerverletzte hielt sich ebenfalls auf den Beinen. Daß er dabei schrie, war ganz natürlich. Er mußte Schmerzen haben, die kaum jemand nachvollziehen konnte. Mesrin hielt die rechte Hand des Mannes fest, die linke hatte der Fischer gegen sein blutendes Gesicht gepreßt.
Die Füße des Fischers wurden schwerer, und auch Mesrin merkte, wie das Gewicht des Mannes an ihm zog. Die sehr kalte Luft drang durch seinen Mund tief in die Lungen hinein, sie stach dort wie mit tausend Nadeln versehen.
»Ich kann nicht mehr laufen!« würgte der Verletzte hervor, dann brach er endgültig zusammen. Seine Beine konnten das Gewicht nicht mehr tragen, er fiel in den Schnee. Seine Hand löste sich aus der des Retters.
Mesrin lief einige taumelige Schritte weiter, bis er sich wieder gefangen hatte, stehenblieb und sich drehte.
Ujuk lag im Schnee. Sein Körper war zusammengekrümmt und sah aus wie ein Haufen Lumpen. Die roten Blutflecken waren trotzdem nicht zu übersehen, und sie breiteten sich aus.
Mesrin schaute den Weg zurück.
Von der Gestalt mit dem Paddel war nichts mehr zu sehen. Sie mußte sich zwischen den Felsen versteckt halten. Vielleicht lauerte sie dort auf weitere Opfer.
Obwohl der verletzte Fischer unbedingt behandelt werden mußte, konnten sie noch nicht weiter. Sie brauchten beide einige ruhige Minuten, um wieder zu Kräften zu kommen.
Aus tränenden Augen schaute Mesrin nach vorn. Der Schnee reflektierte die Sonnenstrahlen. Trotz seiner dunklen Brille wurde er geblendet. Dort, wo die Felsen bis direkt an das Wasser reichten und als graue Masse eine Barriere bildeten, mußte irgendwo der Mörder stecken. Er war nicht zu sehen, auch nicht zu hören, nur die heftigen Atemgeräusche untermalten Mesrins Gedanken.
Wie konnte jemand in einer derartigen Kälte überleben, der nur mit einer dünnen Hose bekleidet war?
Diese Frage ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Sie brannte wie Feuer in seinem Hirn. Er verstand sie nicht, er fand auch keine Antwort und konnte nur die Schultern heben.
Ein Vampir war er nicht gewesen, ein normaler Mensch aber auch nicht.
Was war er dann?
Mesrin zermarterte sich das Gehirn, ohne daß ihm allerdings eine Lösung einfiel. Wenn es eine gab, davon ging er aus, war sie mit dem normalen Verstand nicht zu fassen.
Erst der Vampir, dann diese Gestalt. Gehörten beide möglicherweise zusammen?
Darüber mußte er noch nachdenken, aber nicht jetzt und hier. Es war zunächst wichtig, sich um den Mann zu kümmern, der jammernd neben ihm lag. Die Laute hörten sich an wie ein schweres Seufzen, dessen Klang Mesrin beinahe das Herz zerriß.
Was mußte Iljuk nur leiden!
»Komm hoch!«
Der Fischer hatte ihn nicht verstanden. Mesrin wollte ihn nicht liegenlassen. Er griff unter die Achseln des Mannes und zerrte ihn in die Höhe.
Zum erstenmal sah er dessen Gesicht aus unmittelbarer Nähe und hatte Mühe, ein Erschrecken zu unterdrücken.
Die Nase des Mannes war nur noch in ihrem oberen Drittel vorhanden, alles andere fehlte.
»Komm, wir verbinden dich. Es ist nicht mehr weit, verdammt! Komm endlich!«
Iljuk ließ sich auf die Beine zerren. Er tat nichts dagegen, aber er lief wenigstens mit, als ihn der Freund fortzerrte.
Das Rauschen und Donnern der Brandung kam Mesrin vor wie das Brüllen zahlreicher Ungeheuer, die ihre Mäuler weit aufgerissen hatten, um nach einer Beute zu schreien.
In der Station gab es glücklicherweise eine Krankenbaracke und einen Sanitäter, der sich nicht nur um die Mitglieder der kleinen Gruppe aus Wissenschaftlern kümmerte, sondern sich auch der Fischer annahm, wenn sie etwas hatten.
Als beide Männer schließlich die Baracke erreichten, schreckten sie den Sanitäter hoch, der eingeschlafen war.
»Güter Himmel, was ist das denn?« keuchte der Mann.
»Ihm wurde die Nase abgeschlagen.«
»Hinlegen, sofort!«
Mesrin gehorchte. Er hatte getan, was er konnte. Alles andere war Sache des Sanitäters.
Als er noch einmal einen Blick auf den Verletzten warf, stellte er fest, daß dieser bewußtlos geworden war.
Das war auch besser für ihn. Mit müden Schritten verließ Mesrin die Baracke. In diesen Minuten fror er wie nie zuvor in seinem Leben…
***
Die Nacht hatte den Tag abgelöst. Der Schnee lag da wie eine zusammengepreßte Kunststofffläche, beleuchtet von einigen Natriumdampflampen, die ihr kaltes Licht auf die weiße Oberfläche schickten.
Sobald die Dunkelheit eingetreten war, fiel auch die Temperatur. Die Gebäude der kleinen Wetterstation
Weitere Kostenlose Bücher