Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
einem nervenaufreibenden Geräusch. Agrion lehnte sich leicht gegen die Prinzessin. Jetzt war der Rangunterschied unwichtig geworden, beide hatten nur eines im Sinn: das nackte Leben zu retten und die Stadt zu verlassen. Dachte Agrion an das Schicksal Adas?
Als habe Amee ihre Gedanken erraten, sagte sie leise: »Ada wird bis zum Zeitpunkt der Opferung nichts geschehen. Also bis zur Sonnenfinsternis.«
»Können wir noch verhindern, daß sie geopfert wird?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Amee. »Vielleicht kann uns der schlafende Gott helfen.«
Agrion kannte den kleinen Tempel, in dem der gläserne Schrein stand. Dort, neben dem geheimnisvollen, gutaussehenden Schläfer, lebten die Weisen, von denen Amee und Ada erzogen und unterrichtet worden waren.
Nach einer Weile, die Agrion endlos vorkam, sagte die Prinzessin: »Jetzt können wir es wagen!«
Die Öllampe flackerte. Die Flamme wurde größer und warf die Schatten der Mädchen riesengroß an die nasse Wand. Amee drückte den Riegel und blies die Flamme aus. Wieder schnappte eine Klinke. Agrion verbrannte sich die Finger an dem heißen Tongefäß, als sie die Lampe wegstellte. Ein schmaler Teil der Mauer drehte sich. Beide Mädchen schlüpften hinaus und verschlossen den Gang. Sie huschten nach links, hinüber in den tiefen Schatten unter dem Baum. Sie liefen durch den warmen Sand, der von vielen Fußspuren aufgewühlt war. Niemand war zu sehen. Nur ein magerer, räudiger Köter lief davon, einen Knochen zwischen den Zähnen.
Sie stolperten über einen Schlafenden. Atemlos sahen sie sich um. Von fern hörten sie den Lärm der Plünderer und die Schreie der Überfallenen. Krachend barst der Dachstuhl eines der brennenden Häuser, und ein ungeheurer Funkenschwarm stob wie ein leuchtender Dämon in den dunklen Himmel. Die Sterne funkelten, und der Mond schwebte riesig über dem Wasser des Raxos.
Amee ergriff die Sklavin fest am Oberarm und zog sie mit sich. Sie kamen unter den Ästen des Baumes hervor, liefen in die Dunkelheit einer übelriechenden Gasse hinein und kamen auf einem winzigen, leeren Platz heraus. In seiner Mitte plätscherte mit versiegendem Wasserstrahl ein Brunnen. Hinter den Läden eines heruntergekommenen Hauses schimmerte rotes Licht. Endlich waren sie angekommen. Amee sah sich abermals wachsam um – die Gegend lag wie ausgestorben da. Die Menschen hatten sich verkrochen. Nur die Flammen der brennenden Häuser, die niemand zu löschen wagte, beleuchteten die Szene. Amee hob die Faust und klopfte in einem schnellen Rhythmus an einen Fensterladen. Schritte waren drinnen zu hören; eine dunkle Stimme fragte:
»Ja?«
»Amee.«
Der Ton der knarrenden Tür durchschnitt die Stille. Jedermann in den umliegenden Häusern mußte ihn hören. Amees Herzschlag setzte aus, und sie zog das andere Mädchen rasch mit sich in den Raum hinein. Sofort verschloß Iwa die Tür und senkte einen schweren Balken davor.
»Hat dir mein Sohn geholfen, Prinzessin?« fragte sie leise.
»Ja.« Amee nickte und sah sich schnell um. Alles, was hier war, kannte sie seit Jahren. Die Sklavin blieb schweigend stehen und sah von einer Wand zur anderen. Sie begriff kaum etwas. Der Raum war unordentlich und ungepflegt, aber jedes Ding schien aus guten Gründen genau an diesem Platz zu stehen oder zu hängen. Ein großer Herd mit einer schrägen Esse stand im Mittelpunkt des Raumes. Große Tische, Bündel trocknender Kräuter an allen Wänden, kupferne Gefäße, die über brennenden Öllampen standen, Balken, an denen Kleidungsstücke, Henkelkrüge und seltsame Gerätschaften hingen. Es roch merkwürdig, aber nicht unangenehm.
Iwa ging um das unordentliche Lager herum, öffnete die Tür eines Schrankes und kam mit einer Tonflasche und zwei Bechern zurück. Sie schob die Kerze und einige Pergamentrollen auf dem Tisch zur Seite, rückte zwei fellbedeckte Hocker heran und sagte: »Ein Schluck Wein wird euch helfen! Setzt euch. Dann beratschlagen wir, was zu tun ist. Ich bin recht gut unterrichtet.«
Iwa zählte vierzig oder mehr Sommer. Sie warf Agrion einen langen, prüfenden Blick zu. Agrion fühlte sich im tiefsten Inneren durchschaut. Die Folge dieses stummen Zwiegespräches war, daß beide Frauen erkannten, welch ein Schicksal sie miteinander verband. Mit glucksendem Geräusch lief der Wein in die Becher.
»Partho ist von Obads Männern …«, begann Amee leise.
Iwa unterbrach sie: »Ich weiß, wo er ist.«
Der Wein schmeckte herb, aber es schien den beiden Mädchen,
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