Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
als liefen Feuerströme durch ihre Körper.
Amee sagte: »Der letzte Befehl meines Vaters war, daß uns Partho zuerst zu Bruder Damos und dann zum Berg der Weisen bringen solle. Aber wir müssen zuerst zum schlafenden Gott. Er wird uns helfen!«
Iwa meinte nachdenklich: »Schwierig, aber nicht unmöglich. Das gilt auch für Parthos Befreiung. Ada ist entweder im Tempel oder in einem der Priesterquartiere. Sie wird so gut bewacht, daß ich noch nichts über ihren genauen Verbleib in Erfahrung bringen konnte. Träumst du noch immer vom Schlafenden?« Iwa lächelte.
Amee fühlte, wie sie bis an die Haarwurzeln errötete. Sie sagte fest: »Ich weiß, daß er uns helfen kann. Du mußt mich jetzt in eine alte Vettel verwandeln, damit ich mich unerkannt in der Stadt bewegen kann. Ich brauche auch einen Schlaftrunk, am besten im Wein aufgelöst. Ich muß versuchen, Partho zu befreien. Ich lasse Agrion bei dir. Wir brauchen Pferde. Vielleicht kann sie dir helfen, Freundin Iwa!«
Iwa nickte nur, zog einen Kasten unter dem Tisch hervor und kramte darin. Dann deutete sie auf einen Sessel, der zwischen Kerze und Herdfeuer stand. »Komm ans Licht!«
Agrion stand auf und kam näher. Langsam wich die Beklemmung von ihr. Sie fühlte sich seltsam leicht und unbeschwert und sah zu, wie Iwa mit einem angefeuchteten und eingefärbten Schwamm immer wieder über das Haar der Prinzessin strich. Das Haar wurde grau und strohig. Dann betupfte sie mit einem Läppchen das Gesicht des Mädchens. Die glatte, reine Haut verwandelte sich in die rissige, runzlige Haut einer Alten. Amee lehnte sich still an die Kante des Tisches und schloß die Augen. Sie schien die Wärme des Feuers zu genießen und streifte langsam die Ringe und Armbänder ab. Sie hatten fast allen Schmuck retten können.
Iwa drückte Amee einen Spiegel in die Finger und sagte lachend: »Sieh hinein und begreife, wie du in einigen Jahren aussehen wirst!«
Sie kicherte, sprang auf und holte ein paar zerschlissene Gewänder von einem der vielen Haken. »Zieh dich um! Die Nacht ist bald vorbei!«
»Du bist gemein«, sagte Amee und betrachtete sich verwundert. »Niemals werde ich so aussehen.«
Agrion lehnte sich gegen einen Balken, der das Dach abstützte. Von ihm aus lief ein breites Brett quer durch den Raum. Dort oben standen in langer Reihe glasierte Tonkrüge. In die Glasur waren Schriftzeichen eingeritzt.
Agrion sah zu, wie sich Amee auszog und nur die leichten Stiefel anbehielt. Der Körper der Prinzessin ist wunderschön, dachte sie. Sie ist schöner als ich. Es war ganz und gar verständlich, daß Partho Amee begehrte.
Amee warf die Lumpen über, und ihre Schönheit verschwand. Sie beugte sich vor und strich das Haar ins Gesicht. Nachdem sie ihre Arme mit Ruß aus der Esse geschwärzt hatte, war sie die vollkommene Erscheinung einer alten Frau, von der Last der Jahre gebeugt und den Runzeln der Zeit gezeichnet. Es war wie ein Wunder.
Iwa sagte knapp: »Die Stiefel, Amee!«
Die Prinzessin schüttelte den Kopf und blitzte die Alte mit funkelnden meergrünen Augen an. »Ich brauche sie. Deshalb …!« sagte sie und bückte sich blitzschnell.
Sie griff an ihren Knöchel und hielt im nächsten Augenblick einen langen, flammenförmig gekrümmten Dolch mit nadelfeiner Spitze in der Hand. Ein schneller fintierter Stich zielte auf Iwa.
Die Augen der älteren Frau wurden groß. Dann schüttelte sie verwundert den Kopf. »Du bist ein erstaunliches Mädchen. Ich ahnte es schon damals, als ich dich säugte!«
Amee nickte, langte in die Asche und schmierte sich Ruß und Schmutz über die Stiefel. Dann griff sie in einen Salbentopf und rieb sich die Hände bis weit über die Unterarme hinauf damit ein. Jetzt war die Verwandlung vollkommen. Amee ging gebückt zur Tür, hob den Balken und sagte: »Ich komme bald zurück.«
Iwa legte Amee die Hand auf die Schulter und schob sie zur Tür hinaus. Die junge – alte – Frau schlich gebückt durch die Dunkelheit davon. Sie fürchtete sich, aber sie wußte, daß sie ihre Angst besiegen konnte, wenn sie an den schlafenden Gott dachte, an alles, was Partho sie gelehrt hatte – und Bruder Damos, der Freund ihres Vaters. Es schien etwa die dritte Stunde nach Mitternacht zu sein. Der Geruch von Rauch und von verbranntem Fleisch zog durch die gesamte Stadt.
Iwa schloß die Tür, schob den Balken davor und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Sie setzte sich in den hochlehnigen Sessel und betrachtete ruhig das Mädchen Agrion, das
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