Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
mit einem leeren Weinbecher in der Hand auf dem Schemel hockte.
»Dein Gesicht ist traurig. Welche Fragen plagen dich, Agrion?«
Agrion hielt ihr den Becher entgegen und hob die Schultern. Plötzlich sah sie hilflos und schutzbedürftig wie ein Kind aus.
»Ich verstehe nichts mehr«, sagte sie leise. »König Alac, der mich gekauft hat, ist tot. Ich bin allein und habe niemanden. Partho ist im Gefängnis. Die Palastwache ist zu Obad übergelaufen oder tot. Was soll ich tun? Was erwartet mich denn jetzt?«
»Es ist eine lange und böse Geschichte voller Hinterlist, die dein Schicksal in ihren Krallen hält«, begann Iwa und goß den Becher voll. »Eine Geschichte, die halb so lang wie mein Leben ist. Ein Kampf zwischen Klugheit und Güte und Hinterlist und Machtstreben. Willst du sie hören?«
Agrion nickte. Iwa wirkte beruhigend. Die ältere Frau strömte eine Herzlichkeit aus, die so ganz im Gegensatz zu der schlampigen Behausung stand.
Iwa seufzte und begann: »Die Dunklen Wächter verehren einen Götzen, der in vielen Ländern und unter vielen Namen auftritt. Sie streben nach Macht über die Menschen und tun dies mit allen Mitteln. Andersdenkende werden nicht geduldet. Könige und Fürsten werden ermordet, wenn sie sich nicht beugen. Ihre Riten sind böse und blutig. Sie opfern selbst Menschen auf ihren Altären. Bisher hat dies König Alac verhindert – das ist nun vorbei. Sie hassen am meisten die kleinen Gruppen der Weisen von den Bergen, weil diese die Menschen lehren, was klug und vernünftig ist. Wie die Weisen, die den Schrein bewachen.«
»Werden wir dorthin fliehen?« fragte Agrion.
»Ja, Mädchen, dorthin werden wir fliehen!« bestätigte Iwa.
Sie stocherte im Feuer, die Flammen loderten auf. In den aufprasselnden Funken sah es einen Augenblick lang aus, als bilde sich aus dem Feuer eine Gestalt mit schwarzen Augenhöhlen und grinsendem Mund.
»Obad hat den König vergiftet und die Macht an sich gerissen. Er will, wenn sich die Sonne verfinstert, den Schrein aufbrechen und die Weisen töten. Und die unwissenden Menschen dieser Stadt sind ihm ein williges Werkzeug.«
»Woher kommt der Schrein des schlafenden jungen Mannes?«
Iwa hob die Schultern. Auch sie wußte nicht mehr als das, was ihr Bruder Damos, der Erste Diener, erzählt hatte.
»Damos und seine Freunde haben ihn im Inneren eines Berges entdeckt und ausgegraben. Sie bauten einen kleinen Tempel für ihn. Es heißt, daß der Schlafende aufwachen wird, wenn die Not in Urgor am größten ist.«
»Dann sollte der Gott bald erwachen«, entgegnete Agrion. »Und von ihm träumt die Prinzessin?«
»Sie träumt von diesem Mann und glaubt an ihn, seit sie erwachsen wurde. Vergiß nicht, daß sie häufig bei Damos war. Er hat sie alles gelehrt. Allerdings – nicht nur die Weisheiten, die ich kenne.«
»Dann will ich hier warten, wenn du es erlaubst. Ich hoffe, daß Partho frei wird und auch mich zu den Weisen bringt.«
Iwa lächelte. »Ich denke, ich werde dich auch verkleiden. Während du schläfst, hole ich Pferde. Niemand wird uns erkennen.«
Aus einem anscheinend unerschöpflichen Vorrat an Kleidungsstücken und Schminke begann sie, das Mädchen ebenfalls in eine häßliche Frau zu verwandeln. Sie selbst zog ein anderes Gewand an, dann warteten sie beide auf den Morgen. Iwa saß am erkaltenden Feuer, Agrion schlief zusammengerollt am Fußende des zerwühlten Lagers. Hin und wieder zuckte sie im Traum zusammen. Sie träumte von Dingen, die sie ängstigten und erschreckten.
Der Tag über Urgor brach an. Die Sonne strahlte auf eine Stadt, die im Sterben begriffen war. Nur wenige Menschen wagten sich hinaus auf die Gassen und Plätze.
Seit vier Stunden schlich Amee durch die Stadt. Ihr Rücken schmerzte vom vornübergebeugten Gehen. Sie hatte viel gehört. Grölende Betrunkene, die zusammen mit lachenden Kuttenmännern sich wehrende Frauen mit sich zerrten, sprachen viel. Das alles erfüllte Amee mit tiefster Sorge um Partho und ihre Schwester. Als der Morgen kam, stolperte Amee auf einen Brunnen der Unterstadt zu. Sie lehnte sich an das Gerüst und wartete, bis ein bärtiger Fleischer kam, der den schweren Eimer hochzog und das Wasser in seinen Trog umschüttete. Auch sie trank, vorsichtig, um die Schminke nicht zu verwischen, aus der Hand. Das Wasser des Zisternenbrunnens schmeckte nach Krankheit.
»Scher dich fort, Alte!« sagte der Fleischer und grinste mit schwärzlichen Zähnen. »Keine Frau ist heute sicher. Alle Männer
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