Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
raucht schweigend eine Zigarette, auch mir fehlen die Worte. Dann dränge ich zum Weitergehen. Bis spät in den Abend quäle ich mich durch das Auf und Ab der Berge. Wie noch nie reißt mir der Rucksack in den Schultern und die Füße sind wie aus Blei. Mir ist, als hätte ich Freda huckepack.
Am Rande einer frisch geschnittenen Wiese bereiten wir unser Nachtquartier. Freda hat gute Sachen mit: Lammsalami, Brot mit Sonnenblumenkernen, sogar Butter und eine Dose Fleisch für Feldmann. Ich mache Feuer für den Tee. Der Rauch steigt fast senkrecht. Die Luft steht. Wir liegen auf unseren Schlafsäcken und blicken in die Flammen. Wie viele Nächte habe ich von so einer Nacht geträumt, was macht es mir jetzt bloß so schwer, mich mit meinem Glück abzufinden, warum lässt mich die ersehnte Nähe dieser Frau schon wieder in Gedanken das Weite suchen? Allein wäre ich jetzt glücklich mit meinem Unglück, nun ist es genau umgekehrt.
Schon beim Frühstück hat Freda begriffen und fragt nach dem nächsten Bahnhof. Sie komme sich vor wie ein Störenfried, sagt sie. Ich wage nicht zu widersprechen. Ich habe Schuldgefühle. Hamburg, du hast uns wieder. Die vielen Wochen zu Fuß haben mich anscheinend keinen Schritt weitergebracht. Alles umsonst. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser aussichtslosen Lage schlage ich vor, nach Heppenheim zu laufen, da liegt zwar nicht der allernächste Bahnhof, aber dort bin ich aufgewachsen und mein Onkel Werner, der dort Studienrat ist, hat immer einen guten Wein im Keller. Wir erreichen die Bergstraße, lange bevor die Sonne hinter der pfeilgeraden Autobahn untergegangen ist, und noch ehe es dunkelt, sind wir in Heppenheim bei Onkel Werner gut untergebracht. Nach einer kalten Dusche, einem warmen Essen und zwei Flaschen Heppenheimer Eckweg, Spätlese 1976, sieht die Welt schon ganz anders aus. Arm in Arm schlendere ich mit Freda durch das schlafende Städtchen und ergehe mich in vagen Kindheitserinnerungen. Genau lokalisieren lassen sich meine ersten sechs Lebensjahre kaum, die ich hier verbracht habe. Vielleicht liegt es daran, dass ich eigentlich schon in der Wiege ein Nichtsesshafter war. Kurz nach meiner Geburt zerbrach die Kriegsehe meiner Eltern und ich wanderte von Hand zu Hand, wechselte öfter die Bezugsperson, als es mir guttat. Mein Vater musste oft geschäftlich verreisen und meine Mutter, die nach 1945 aus dem zerbombten Berlin in das Elternhaus ihres Mannes floh, war heilfroh, wenn sie bei Freunden in Hamburg oder sonst wo der Enge der Kleinstadt entfliehen konnte. So war »Mai« das erste Wort, das ich sprach, und ich meinte damit Marie, unser Kindermädchen, die heute im Gasthof »Zum goldenen Engel« am schönen alten Marktplatz die Zimmer putzt. Ich entsinne mich dunkel an einen Spalt in der brüchigen Friedhofsmauer, vor dem ich mich damals schrecklich fürchtete. Ich dachte, dass durch diesen Spalt die Seelen der Toten direkt in die Hölle führen, und als meine Großeltern kurz hintereinander starben, da habe ich die Ritze mit Erde verstopft, damit ihnen das Fegefeuer auf jeden Fall erspart bliebe. Auch eine Lügenbrücke ist mir in Erinnerung, die ich nur anzusehen brauchte, um sie gefährlich zum Schwanken zu bringen, und unvergesslich ist mir das Kinderheim, wo es für mich Bettnässer zum Nikolaus Hiebe statt Süßigkeiten gab. Doch die düsteren Kindheitsbilder schrecken mich heute Nacht nicht. Mit ihnen lässt sich auf angenehme Weise die Gegenwart verstellen und morgen früh schon nimmt Freda den Zug nach Süden.
Die Hoffnungsreisenden – Von Özlem Gezer
Noch als Schülerin an der Henri-Nannen-Journalistenchule begleitete Özlem Gezer bulgarische Wanderarbeiter auf der langen Reise von deren Heimatdort in Bulgarien nach Hamburg. Sie fuhr im Selbstversuch die ganze Strecke mit im Minibus und besuchte die Arbeiter auch in deren Wohnquartieren. Ihre Reportage wurde mit dem Helmut-Stegmann-Preis 2011 des Bayerischen Journalistenverbandes ausgezeichnet. Özlem Gezer ist Redakteurin beim Spiegel .
Moderne Menschenhändler beliefern den deutschen Markt mit Arbeitskräften aus Bulgarien, auf die 3 Euro Stundenlohn warten und Schlafplätze im Kellerverschlag. Eine Reise mit Tagelöhnern, die Deutschland für das gelobte Land halten.
Bojan Hakim 1 steht auf dem Marktplatz und nimmt Bestellungen an. »Drei Männer zwischen 20 und 35«, sagt ein Kunde, »diesmal aber kräftiger!« Hakim nickt. dann drückt er dem Bauherrn seine Visitenkarte in die Hand. Ein VW
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