Drei Dichter ihres Lebens
Geist nach einer andern architektonischen Ordnung aufzubauen. Wenn Tolstoi meint, man könne sich »den Egoismus abgewöhnen wie das Rauchen«, oder man vermöchte die Liebe sich »zu erobern«, den Glauben zu »erzwingen«, so widerspricht bei ihm selbst ein durchaus bescheidenes Resultat einer ungeheuerlichen und fast manischen Anstrengung. Denn nichts bezeugt, daß Tolstoi, der Zornmensch, »dessen Augen blitzen, sobald man ihm nur leise widerspricht«, zufolge seiner Gewaltkonversion damals sofort ein gütiger, sanfter, liebevoller, sozialer Christ, ein »Diener Gottes«, ein »Bruder« seiner Brüder geworden sei. Seine »Wandlung« hat wohl seine Ansichten, seine Meinungen, seine Worte verändert, nicht aber seine innerste Natur – »nach dem Gesetz, wonach du angetreten, so mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen« (Goethe) –; die gleiche Unheiterkeit und Qualsucht überschattet seine Unruhseele vor und nach dem »Erwachen«: Tolstoi war nicht geboren zum Zufriedensein. Gerade um seiner Ungeduld willen hat Gott ihm den Glauben nicht sofort »geschenkt«, er muß noch dreißig Jahre, bis in die letzte Lebensstunde unablässig ringen. Sein Damaskus vollendet sich nicht an einem Tag, nicht in einem einzigen Jahr: bis zum erlöschenden Atemzuge wird Tolstoi an keiner Antwort Genüge finden, an keinem Glauben sich befrieden und das Leben bis zum letzten Augenblick als großartig-grauenhaftes Geheimnis empfinden.
So wird Tolstoi auf seine Frage nach dem Sinn »des Lebens« keine Antwort, sein Ansprung gegen Gott, der gierig gewaltsame, ist mißlungen. Aber dem Künstler ist ja allezeit eine Rettung gegeben, wenn er eines Zwiespalts nicht Meister wird – er kann seine Not aus sich in die Menschheit werfen und seine Seelenfrage in eine Weltfrage verwandeln, und so steigert auch Tolstoi den egoistischen Schreckensschrei seiner Krise »Was wird aus mir?« in den gewaltigeren »Was wird aus uns?« Da er seinen eigenen eigenwilligen Geist nicht überzeugen kann, will er die andern überreden. Da er sich selbst nicht zu ändern vermag, versucht er die Menschheit zu ändern. Alle Religionen aller Zeiten sind so entstanden, alle Weltverbesserungen haben sich (Nietzsche, der Durchschauendste, weiß es) aus der »Selbstflucht« eines einzigen in seiner Seele bedrohtenMenschen geformt, der, um die verhängnisvolle Frage von der eigenen Brust abzuwälzen, sie zurück gegen alle wirft, Wesensunruhe in Weltunruhe verwandelnd. Er ist kein frommer und franziskanischer Christ geworden, niemals, dieser großartig leidenschaftliche Mann mit den unbelügbaren Augen, mit dem harten und heißen Herzen des Zweifels, aber er hat eben aus dem Wissen um die Qual des Unglaubens den fanatischesten Versuch unserer Neuzeit unternommen, die Welt aus nihilistischer Not zu erretten, sie gläubiger zu machen, als er jemals selber war. »Die einzige Rettung aus der Verzweiflung des Lebens ist das Hinaustragen seines Ichs in die Welt«, und dieses gequälte wahrheitsgierige Ich Tolstois wirft darum, was ihn als furchtbare Frage überfiel, der ganzen Menschheit als Warnruf und Lehre entgegen.
Die Lehre und ihr Widersinn
Ich bin einer großen Idee nahegekommen, deren Verwirklichung ich mein ganzes Leben opfern könnte. Diese Idee ist die Gründung einer neuen Religion, der Religion Christi, aber von Glaubenssätzen und Wunden befreit. Jugendtagebuch, 5. März 1855
Als Grundstein dieser seiner Lehre, seiner »Botschaft« an die Menschheit setzt Tolstoi das Wort des Evangeliums »Widerstrebet nicht dem Bösen« und gibt ihm die schöpferische Auslegung: »Widerstrebet nicht dem Bösen mit Gewalt.«
In diesem Satz liegt latent die ganze Tolstoische Ethik: diesen steinernen Katapult hat der große Kämpfer mit der ganzen oratorischen und ethischen Vehemenz seines schmerzüberspannten Gewissens so wuchtig gegen die Wand des Jahrhunderts gestoßen, daß noch heute die Erschütterung nachschwingt im halb geborstenen Gebälk. Unmöglich, die Seelenwirkung dieses Wurfs in ihrer ganzen Tragweite auszumessen: die freiwillige Waffenstreckung der Russen nach Brest-Litowsk, die non-résistance Gandhis, der pazifistische Anruf Rollands inmitten des Krieges, der heroische Widerstand unzähliger einzelner Namenloser gegen die Vergewaltigung des Gewissens, der Kampf gegen die Todesstrafe – allediese isolierten und scheinbar zusammenhanglosen Akte des neuen Jahrhunderts danken Leo Tolstois Botschaft den energetischen Antrieb. Wo immer heute Gewalt
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