Drei Dichter ihres Lebens
sorgfältig die minder appetitlichen, die rein sexuellen Episoden ihres Liebeslebens tot, um sich einzig über die seelisch durchfärbten, die sentimentalen oder leidenschaftlichen Liebeleien mit den Klärchen und Gretchen zu verbreiten. Damit sublimieren sie aber unbewußt das lebensechte Bildnis der männlichen Erotik: Goethe, Tolstoi, selbst der sonst nicht prüde Stendhal gleiten rasch und mit schlechtem Gewissen hinweg über unzählige bloße Bettabenteuer und die Begegnungen mit der venus vulgivaga, der irdischen, allzu irdischen Liebe, und hätte man nicht diesen frech-aufrichtigen, herrlich-schamlosen Kerl Casanova, der hier allerhand Vorhänge hebt, so fehlte der Weltliteratur ein vollkommen ehrliches und durchaus komplexes Bild der männlichen Geschlechtlichkeit. Bei ihm sieht man endlich einmal das ganze sexuelle Triebwerk der Sinnlichkeit in Funktion, die Welt im Fleische auch dort, wo sie schmierig, schlammig, sumpfig wird. Casanova sagt in sexualibus nicht nur die Wahrheit, sondern – unausmeßbarer Unterschied! die ganze Wahrheit seiner Liebeswelt allein ist wahr wie die Wirklichkeit.
Casanova wahr? – ich höre die Philologen entrüstet aufrücken von ihren Stühlen, haben sie doch in den letzten fünfzig Jahren Maschinengewehrfeuer nach seinen historischen Böcken geschossen und manche fette Lüge zur Strecke gebracht. Aber gemach nur, gemach! Zweifellos hat der gerissene Falschspieler, dieser berufsmäßige Lügenpeter und Radamonteur auch in seinen Memoiren die Karten etwas künstlich gemischt, il corrige la fortune, und gibt dem oft schwerfälligenZufall geschwindere Beine. Er schmückt, garniert, pfeffert und würzt sein aphrodisisches Ragout mit allen Ingredienzien einer durch Entbehrung aufgepulverten Phantasie, vielleicht sogar, ohne es immer selbst zu wissen. Nein – einen Fanatiker der Einzelwahrheit, einen verläßlichen Historiker darf man in ihm nicht suchen, und je genauer die Wissenschaft unserm guten Casanova auf die Finger paßt, um so tiefer kommt er in die Kreide. Aber alle diese kleinen Schwindeleien, chronologischen Irrtümer, Mystifikationen und Windbeuteleien, diese willkürlichen und oft sehr begründeten Vergeßlichkeiten zählen nichts gegen die ungeheure und geradezu einzige Wahrhaftigkeit der Lebenstotalität in diesen Memoiren. Zweifellos hat Casanova von dem unbestreitbaren Recht des Künstlers, Zeitliches und Räumliches zusammenzuziehen und Geschehnisse sinnlicher zu machen, im einzelnen reichlich Gebrauch gemacht – aber was tut's gegen die ehrliche, offene, augenklare Art, mit der er sein Leben und seine Zeit als Ganzes ansieht. Nicht er allein, sondern ein Jahrhundert steht plötzlich springlebendig auf der Bühne, wirbelt in dramatischen, von Kontrasten knisternden, elektrisch geladenen Episoden alle Schichten und Stände der Gesellschaft, der Nationen, alle Landschaften und Sphären kunterbunt durcheinander, ein Sittenbild und Unsittenbild ohnegleichen. Denn der scheinbare Defekt, daß er nicht profund in die Tiefe hinablotet, macht seine Schauart so dokumentarisch für das Kulturelle; Casanova zieht nicht aus der Fülle begrifflich die Wurzel und entsinnlicht dadurch die Summe der Erscheinungen, nein, er läßt alles locker, ungeordnet, in dem lebensechten Nebeneinander des Zufalls, ohne zu sortieren, zu kristallisieren. Alles liegt bei ihm auf der einen und gleichen Linie der Wichtigkeit, sobald es ihn nur amüsiert – das einzige Werturteil seiner Welt! – er kennt kein Groß und Klein, weder im Moralischen noch im Wirklichen, kein Gut und Böse. Darum wird er das Gespräch mit Friedrich dem Großen nicht um ein Haar ausführlicher oder ergriffener schildern als zehn Seiten vorher das Gespräch mit einer kleinen Hure, mit gleicher Sachlichkeit und Gründlichkeit das Bordell in Paris beschreiben wie den Winterpalast der Kaiserin Katharina. Ihm erscheint ebenso belangreich, wieviel hundert Dukaten er im Pharao gewonnen oder wie oft er in einer Nacht mit seiner Dubois oder Helene Sieger blieb, alsdie Konversation mit Herrn Voltaire der Literaturgeschichte zu bewahren – keinem Ding der Welt hängt er moralische oder ästhetische Gewichte an, und darum bleibt sie dermaßen herrlich im natürlichen Äquilibrium. Gerade, daß Casanovas Memoiren intellektuell nicht viel mehr sind als die Notizen eines klugen Durchschnittsreisenden durch die interessantesten Landschaften des Lebens, macht zwar kein Philosophikum aus ihnen, aber zugleich einen historischen
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