Drei Dichter ihres Lebens
stimmt nicht, erzählt er in der Vorrede zur »Chartreuse de Parme«, dieses Buch sei 1830, und zwar zwölfhundert Meilen weit von Paris, geschrieben, so hindert diese Eulenspiegelei nicht, daß er diesen Roman in Wirklichkeit 1839, und zwar mitten in Paris verfaßte. Auch in den Tatsächlichkeiten stolpern die Widersprüche munter durcheinander. In einer Selbstbiographie berichtet er pompös, er sei bei Wagram, Aspern und Eylau auf dem Schlachtfeld gewesen; kein Wort davon ist wahr, denn unwiderleglich beweist das Tagebuch: er saß zu ebenderselben Stunde noch behaglich in Paris. Einigemal redete er von einem langen und wichtigen Gespräch mit Napoleon, aber, Verhängnis! im nächsten Band liest man bedeutend glaubhafter das Geständnis: »Napoleon unterhielt sich nicht mit Narren meiner Art.« So muß man bei Stendhal jede einzelne Behauptung mit vorsichtigen Fingern anfassen und am mißtrauischsten seine Briefe, die er, angeblich aus Furchtvor der Polizei, prinzipiell falsch datiert und jedesmal mit einem andern Pseudonym unterzeichnet. Promeniert er gemächlich in Rom, so gibt er als Absendeort gewiß Orvieto an, schreibt er angeblich aus Besancon, so war er wirklich an jenem Tage in Grenoble, manchmal ist die Jahreszahl, meist der Monat irreführend eingesetzt und fast regelmäßig die Unterschrift. Aber das war nicht, wie manche meinen, bloße Furcht vor dem schwarzen Kabinett der österreichischen Polizei, die ihn zu solchen Narrenspielen trieb, sondern eine eingeborene, urtümliche Lust am Bluffen, In-Verwunderung-Setzen, Sich-Verstellen, Sich-Verstecken. Stendhal wirbelt Mystifikationen und Pseudonyme wie ein funkelndes Florett meisterlich um die eigene Person, nur damit kein Neugieriger ihm zu nah herankomme, und niemals hat er aus dieser seiner leidenschaftlichen Neigung zum Düpieren und Intrigieren ein Hehl gemacht. Als ein Freund ihn einmal erbittert in einem Briefe beschuldigt, er habe infam gelogen, notiert er seelenruhig an den Rand des Anklageschreibens »vrai« – »richtig! stimmt!« Mit munterer Stirn und ironischem Vergnügen schwindelt er in seine Amtszeugnisse falsche Dienstjahre, loyale Gesinnungen bald gegen die Bourbons, bald gegen Napoleon, in all seinen Schriften, den gedruckten und privaten, wimmeln die Unstimmigkeiten wie Fischlaich im Sumpf. Und die letzte seiner Mystifikationen ist – Rekord aller Lügenhaftigkeit! – auf ausdrücklich testamentarischen Wunsch sogar in Marmor gemeißelt, in seinen Leichenstein auf dem Montmartrefriedhof. Dort steht noch heute die Irreführung zu lesen: Arrigo Beyle, Milanese, als letzte Ruhestatt dessen, der gutfranzösisch Henri Beyle getauft und (zu seinem Ärger!) in der bittern Provinzstadt Grenoble geboren war. Selbst dem Tod wollte er sich noch in Maske präsentieren: noch für ihn hat er sich romantisch
kostümiert.
Aber dennoch und trotzdem: wenige Menschen haben der Welt so viel bekennerische Wahrheit über sich selbst gegeben wie dieser Meisterkünstler der Verstellung. Stendhal wußte gebotenenfalls mit der gleichen Vollendung wahr zu sein, mit der er zu lügen liebte. Mit einer zunächst verblüffenden, ja oft erschreckenden und dann erst überwältigenden Rückhaltlosigkeit hat er, erstmalig kühn, gewisse allerintimste Erlebnisse und Selbstbeobachtungen laut und gerade herausgesprochen,die andere bereits an der Schwelle des Bewußtseins hastig verschleiern oder wegeskamotieren. Denn Stendhal hat genausoviel Mut, ja Frechheit sogar, zur Wahrheit wie zur Lüge, er springt da wie dort mit einer famosen Unbedenklichkeit über alle Hürden der Gesellschaftsmoral, er pascht durch alle Grenzen und Wegschranken der innern Zensur; scheu im Leben, timid vor den Frauen, wird er sofort couragiert, sobald er die Feder nimmt; dann hindern ihn keine »Hemmungen«, im Gegenteil: wo überall er solche Widerstände in sich findet, packt er sie an, holt sie aus sich heraus, um sie mit der größten Sachlichkeit zu anatomisieren. Gerade, was ihn am meisten im Leben hemmte, das bemeistert er am besten in der Psychologie. Intuitiv hat er derart mit echtem Genieglück um 1820 schon einige der raffiniertesten Schließen und Schlösser der Seelenmechanik aufgeknackt, die erst hundert Jahre später die Psychoanalyse mit ihren komplizierten und kunstreichen Apparaten zerlegte und rekonstruierte – sein eingeborener und gymnastisch geübter Psychologenmut springt gleich um ein Jahrhundert mit einem Satz der geduldig vordringenden Wissenschaft voraus. Und
Weitere Kostenlose Bücher