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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Fünfzigjährige hat jenen kritischen Punkt erreicht, wo die produktive Formkraft des Plasmas nachzulassen beginnt und die Seele droht, in Erstarrung überzugehen. Nicht mehr so bildnerisch drängen die Sinne, die Farbkraft der Eindrücke verblaßt wie jene des eigenen Haares, jene zweite Epoche beginnt, die gleichfalls uns von Goethe vertraute, da das warme Sinnenspiel sich zur Kelter der Begriffe sublimiert, Gegenstand zur Erscheinung, Bildnis zum Symbol wird. Wie jede profunde Verwandlung des Geistes leitet auch hier
    zunächst ein leises Unbehagen des Leibes solche Umgeburt ein. Eine geistige Kälteangst, eine entsetzliche Verarmungsfurcht schauert jählings über die beunruhigte Seele, und der feinnervige Seismograph des Körpers verzeichnet sofort herannahende Erschütterung (die mystischen Krankheiten Goethes bei jeder Verwandlung!). Aber – und hier betreten wir kaum durchlichtetes Gebiet – indes die Seele diesen Angriffvom Dunkel her noch nicht zu deuten weiß, hat im Organismus schon selbsttätig die Gegenwehr begonnen, eine Umstellung im Psycho-Physischen, ohne Wissen, ohne Willen des Menschen, aus der undurchdringlichen Vorsorge der Natur. Denn genau wie den Tieren noch lange vor dem Kälteeinbruch plötzlich ein warmes Winterhaar um den Leib sich legt, so wächst auch der menschlichen Seele im Zeitpunkt des ersten Altersüberganges, kaum daß der Zenit überschritten, ein neues geistiges Schutzkleid, eine dichte, defensive Deckhülle. Diese profunde Umstellung vom Sinnlichen ins Geistige, ausgehend vielleicht vom Zellwerk der Drüsen und hinvibrierend bis in die letzten Schwingungen schöpferischer Produktion, diese klimakterische Epoche formt sich als seelische Erschütterung genauso blutbedingt und krisenhaft wie die Pubertät selbst aus, wenn auch – heran, ihr Psychoanalytiker und Psychologen! – kaum in den körperlichen Grundspuren erlauscht, geschweige denn in den geistigen beobachtet. Bei den Frauen bestenfalls, wo das Phänomen der Geschlechtsrückbildung gröber und klinischer in beinahe greifbaren Formen zutage tritt, mögen einzelne Beobachtungen gesammelt sein; vollkommen unerforscht dagegen harrt noch die mehr geistige der männlichen Umschaltung und ihre seelischen Konsequenzen der psychologischen Durchlichtung. Denn das Mannesklimakterium ist fast einhellig die Lieblingszeit der großen Konversionen, der religiösen, der dichterischen und verstandesmäßigen Sublimierungen, Schutzkleid sie alle um das schwächer durchblutete Sein, geistiger Ersatz für verminderte Sinnlichkeit, verstärktes Weltgefühl für abklingendes Selbstgefühl, verebbende Lebenspotenz. Vollkommen komplementär der Pubertät, gleich lebensgefährlich bei den Gefährdeten, gleich vehement bei den Vehementen, gleich produktiv bei den Produktiven, leitet solcherart das Mannesklimakterium eine andersfarbige schöpferische Seelenepoche ein, einen neuen geistigen Johannestrieb zwischen Aufstieg und Niederstieg. Bei jedem bedeutenden Künstler begegnen wir diesem unausweichlichen Krisenaugenblick, bei keinem freilich mit solch erdaufwühlender, vulkanischer und beinahe vernichtender Impetuosität wie bei Tolstoi. Vom realen Raum aus betrachtet, von bequemer Objektivität her, geschieht ja Tolstoi in seinem fünfzigsten Jahr eigentlich nichts anderes als das Altersgemäße:eben, daß er sich altern fühlt. Das ist alles, sein ganzes Erlebnis. Ein paar Zähne fallen aus, das Gedächtnis dunkelt ab, manchmal schatten Mattigkeiten in die Gedanken: alltägliches Phänomen eines Fünfzigjährigen. Aber Tolstoi, dieser Vollmensch, diese nur im Strömen und Überströmen erfüllte Natur fühlt sich bei dem ersten Anhauch von Herbstlichkeit sofort schon welk und todesreif. Er vermeint, »nicht mehr leben zu können, wenn man nicht trunken ist vom Leben«; eine neurasthenische Depression, eine ratlose Verstörung überkommt den übergesunden Mann. Er kann nicht schreiben, er kann nicht denken – »Ich schlafe geistig und kann nicht aufwachen, mir ist nicht wohl, ich bin mutlos« –; wie eine Kette schleppt er »die langweilige und platte Anna Karenina« zu Ende, sein Haar färbt sich plötzlich grau, Falten zerschneiden die Stirn, der Magen revoltiert, die Gelenke werden schwach. Stumpf brütet er vor sich hin und sagt, »daß ihn nichts mehr freue, daß vom Leben nichts mehr zu erwarten sei, daß er bald sterben werde«, er »strebt mit allen Kräften fort vom Leben«, und knapp hintereinander verzeichnet das Tagebuch die

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