Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
wirft sich Leo Tolstoi ins Knie vor den Ikonen, fastet, pilgert in die Klöster, diskutiert mit Bischöfen und Popen und zerblättert das Evangelium. Drei Jahre müht er sich, strenggläubig zu sein: aber die Kirchenluft weht ihm leeren Weihrauch und Frost in die schon frierende Seele, bald schlägt er enttäuscht für immer die Tür zu zwischen sich und der rechtgläubigen Lehre; nein, die Kirche hat den rechten Glauben nicht, erkennt er, oder vielmehr: sie hat die Wasser des Lebens versickern lassen, vergeudet, verfälscht. So sucht er weiter
    : vielleicht wissen die Philosophen, die Denklehrer mehr von diesem unheimlichen »Sinn des Lebens«. Und sofort beginnt berserkerwütig und fieberhaft Tolstoi, kreuz und quer durcheinander alle Philosophen aller Zeiten zu lesen (viel zu rasch, sie zu verdauen, zu begreifen), Schopenhauer zuerst, den ewigen Beischläfer jeder Seelenverdüsterung, dann Sokrates und Plato, Mohammed, Konfuzius und Laotse, die Mystiker, die Stoiker, die Skeptiker und Nietzsche. Aber bald schlägt er die Bücher zu. Auch diese haben ja kein anderes Medium der Weltsicht als das seine, den überscharfen, schmerzhaft schauenden Verstand, auch sie nur Ungeduldige zu Gott hin und nicht Ruhende in Gott. Sie schaffen Systeme für den Geist, aber keinen Frieden einer beunruhigten Seele, sie geben Wissen, aber keinen Trost.
    Und wie ein gequälter Kranker, an dem die Wissenschaft versagte, mit seinem Gebrest zu den Wurzelweibern und Dorfbadern, so geht Tolstoi, geht der geistigste Mensch Rußlands im fünfzigsten Jahre seines Lebens zu den Bauern, zum »Volk«, um von ihnen, den Unbelehrten, endlich den rechten Glauben zu lernen. Ja, sie, die Unbelehrten, die von der Schrift nicht Verwirrten, sie, die Armen und Gequälten, die ohne Klage roboten, die sich stumm wie Tiere in einen Winkel legen, wenn der Tod aus ihnen wächst, sie, die nicht zweifeln, weil sie nicht denken, sancta simplicitas, die heilige Einfalt, sie müssen doch irgendein Geheimnis haben, sonst könnten sie nicht derart ergeben und ohne Empörung den Nacken beugen. Sie müssen etwas wissen in ihrer Dumpfheit, was die Weisheit nicht weiß und der schneidende Geist, und dem zu Dank sie, die Zurückgebliebenen im Verstände, uns voraus sind mit der Seele. »Wie wir leben, ist es falsch, wie sie leben, ist es richtig« – darum tritt Gott aus ihrem geduldigen Dasein sichtbar empor, indes der Geist, der Wissensdrang mit seiner »müßigen, wollüstigen Gier«, von der wahren Lichtquelle des Herzens entfernt. Hätten sie nicht einen Trost, nicht innen ein magisches Heilkraut, sie könnten nicht so heiter eine derart erbärmliche Existenz ertragen: irgendeinen Glauben müssen sie verbergen, und eine Ungeduld überkommt den unbändigen Mann, dieses Arkanum ihnen abzulernen. Von ihnen, nur von ihnen, dem »Gottvolk«, beredet sich Tolstoi, kann man einzig das »richtige« Leben kennenlernen, das große Geduldigsein und Sichergeben in das harte Dasein und den noch härteren Tod.
    Also heran an sie, ganz dicht hinein in ihr Leben, das Gottgeheimnis ihnen abzulauschen! Herunter mit dem Adelsrock und die Muschikbluse an, weg vom Tisch mit den leckeren Speisen und überflüssigen Büchern: nur die unschuldigen Kräuter und die sanfte Milch der Tiere soll von nun an den Leib nähren, nur die Demut, die Dumpfheit den faustisch wühlenden Geist. So stellt sich Leo Nikolajewitsch Tolstoi, Herr von Jasnaja Poljana und noch mehr: Herr im Geiste über Millionen, im fünfzigsten Jahre seines Lebens selbst an den Pflug, trägt auf breitem Bärenrücken die Wassertonne vom Brunnen und mäht in der Mitte seiner Bauern mit unermüdlichem Arbeitstrotz das Getreide. Die Hand, die »Anna Karenina« und »Krieg und Frieden« geschrieben,fädelt jetzt die Pechahle in selbstgeschnittene Schuhsohlen, fegt den Schmutz aus der Stube und näht sich selber das eigene Kleid. Nur nahe heran, nur rasch, nur eng heran zu den »Brüdern« – mit einem einzigen Willensruck hofft so Leo Tolstoi, »Volk« zu werden und damit »Gottes-Christ«. Er geht hinab in das Dorf zu den halb noch Leibeigenen (bei seiner Annäherung fassen sie verlegen an die Mützen), er ruft sie ins Haus, wo sie mit ihren plumpen Schuhen ungeschickt über die spiegelnden Parkette wie über Glas gehen und aufatmen, daß der »Barin«, der gnädige Herr, nicht Böses mit ihnen vorhat, nicht, wie sie fürchteten, abermals Zins und Pacht erhöht, sondern – sonderbar: sie schütteln verlegen ihre Köpfe –

Weitere Kostenlose Bücher