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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Wie ein Verzweifelter tastet er im verfinsterten Weltgewölbe die Wände ab, um irgendwo einen Ausgang zu finden, eine Selbstrettung, einen Funken Licht, einen Sternglanz Hoffnung. Und erst, wie er sieht, daß niemand von außen ihm Hilfe und Erleuchtung bringt, gräbt er sich selbst einen Minengang, planhaft und systematisch, Stufe um Stufe. 1879 schreibt er die folgenden »unbekannten Fragen« auf ein Blatt Papier:
    a) Wozu leben?
b) Welche Ursache hat meine Existenz und die jedes anderen?
c) Welchen Zweck hat mein Dasein und jedes andere?
d) Was bedeutet jene Spaltung in Gut und Böse, welche ich in mir fühle, und wozu ist sie da?
e) Wie soll ich leben?
f) Was ist der Tod – wie kann ich mich retten?
    »Wie kann ich mich retten? Wie soll ich leben?« das ist Tolstois furchtbarer Schrei, von der Kralle der Krise ihm heiß aus dem Herzen gerissen. Und dieser Schrei gellt nun durch dreißig Jahre, bis die Lippen versagen. Die gute Botschaft, die von den Sinnen kam, er glaubt sie nicht mehr, die Kunst gibt keinen Trost, die heiße Trunkenheit der Jugend ist grausam ernüchtert, von allen Seiten strömt Kälte heran. Wie kann ich mich retten? Immer gieriger wird dieser Schrei, denn es kann doch nicht sein, daß dieses scheinbar Sinnlose nicht doch einen Sinn hätte. Vernunft allein reicht nur aus, das Lebendige, nicht aber den Tod zu wissen, darum tut eine neue, eineandere Seelenkraft not, das Unfaßbare zu erfassen. Und da er in sich selbst, dem Ungläubigen, dem Sinnesmenschen, sie nicht findet, da wirft er sich, media in vita, inmitten seines Weges plötzlich demütig hin auf die Knie vor Gott, schleudert sein Weltwissen, das ihn fünfzig Jahre unendlich beglückte, verächtlich von sich und bittet ungestüm um einen Glauben: »Schenke mir ihn, Herr, und laß mich den andern helfen, ihn zu finden.«
    Der künstliche Christ
     
    Mein Gott, wie schwer ist es, zu leben nur vor Gott – zu leben, wie Menschen gelebt haben, die in einem Schacht verschüttet waren und die wußten, daß sie niemals herauskommen und niemand je erfahren würde, wie sie dort gelebt haben. Aber man muß, man muß so leben, weil nur solch ein Leben ein Leben ist. Hilf mir, Herr! Tagebuch, November 1900
     
    »Schenke mir einen Glauben, Herr«, schreit Tolstoi verzweifelt auf zu seinem bisher geleugneten Gott. Aber es scheint, dieser Gott gewährt sich jenen nicht, die allzu ungestüm nach ihm verlangen. Denn leidenschaftliche Ungeduld, sein Erzlaster, Tolstoi trägt es bis in den Glauben hinein. Nicht genug, einen Glauben zu verlangen, nein, sofort muß er ihn haben, über Nacht fertig und handlich wie eine Axt, um das ganze Dickicht seiner Zweifel auszuroden, denn der adelige Herr, gewohnt, flink umsprungen zu sein von seinen Dienern, verwöhnt auch von den hellsichtigen, hellhörigen Sinnen, die ihm jede Wissenschaft der Welt mit Lidschlagschnelligkeit vermitteln, er will nicht geduldig warten, der unbeherrschte, launische, eigenwillige Mann. Er will nicht warten, mönchisch versenkt in beharrliches Lauschen auf die allmähliche Durchfilterung des obern Lichts – nein, sofort soll es wieder tagklar sein in der verdunkelten Seele. Mit einem einzigen Sprung, mit einem Ruck will sein impetuoser, alle Hindernisse überjagender Geist zum »Sinn des Lebens« vorpreschen – »Gott wissen«, »Gott denken«, wie er beinahe frevlerisch zu sagen sich vermißt. Den Glauben, das Christlichwerden und Demütigsein, das In-Gott-Wohnen hofft er genauso flinkund eilfertig erlernen zu können, wie er jetzt mit grauen Haaren Griechisch und Hebräisch lernt, plötzlicher Pädagoge, Theologe oder Soziologe innerhalb von sechs Monaten, bestenfalls eines raschen Jahres.
    Aber wo findet man derart plötzlich einen Glauben, trägt man in sich selbst kein Samenkorn Gläubigkeit? Wie wird man über Nacht mitleidig, gütig, demütig, sanft franziskanisch, wenn man fünfzig Jahre nur mit dem schonungslosen Auge des Betrachters, als bewußter, urrussischer Nihilist die Welt gewertet und darin einzig sich selber als wichtig und wesentlich empfunden? Wie biegt man solchen steinharten Willen mit einem einzigen Handgriff in nachgiebige Menschenliebe um, wo lernt, wo erlernt man den Glauben, das Sichselbstverlieren an eine höhere und überweltliche Macht? Selbstverständlich bei jenen, die den Glauben schon haben oder zumindest vorgeben, ihn zu besitzen, sagt sich Tolstoi: bei der Mater orthodoxa, der Kirche. Sofort (denn er läßt sich keine Zeit, der ungeduldige Mann)

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