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Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Titel: Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Gott und Teufel spannt sich seine Welt.
    Grenzenlose, restlose wissend-wehrlose Hingabe an sein zwiespältiges Schicksal, amor fati ist darum Dostojewskis letztes und einziges Geheimnis, der schöpferische Feuerquell seiner Ekstase. Eben weil das Leben ihm so gewaltig zugemessen war, weil es ihm Unermeßlichkeiten des Gefühles im Leiden auftat, hat er das grausam-gütige, göttlich-unverständliche, ewig unerlernbare, ewig mystische Leben geliebt. Denn sein Maß ist die Fülle, die Unendlichkeit. Nie wollte er seinen Lebensgang milderen Wellenschlags,einzig sich selbst noch konzentrierter, intensiver. Was Keim war in ihm, Keim des Guten und des Bösen, jede Leidenschaft, jedes Laster hat er aufgesteigert durch Begeisterung und Selbstekstase, nichts ausgerodet an Gefahr in seinem wissenden Blut. Restlos gibt sich der Spieler in ihm als Einsatz an das leidenschaftliche Spiel der Mächte, denn nur im Rollen von Schwarz und Rot, Tod oder Leben, spürt er taumlig-süß die ganze Wollust seiner Existenz. »Du hast mich hineingestellt, du wirst mich wieder hinausführen«, ist mit Goethe seine Antwort an die Natur. »Corriger la fortune«, das Schicksal zu verbessern, auszubiegen, abzuschwächen, fällt ihm nicht bei. Nie sucht er Vollendung, Abschluß, Ende in einer Ruhe, nur Steigerung des Lebens im Leiden, immer höher lizitiert er sein Gefühl zu neuen Spannungen, denn nicht sich will er gewinnen, sondern die höchste Summe des Gefühls. Er will nicht wie Goethe zum Kristall erstarren, kalt mit hundert Flächen das bewegte Chaos spiegelnd, sondern Flamme bleiben, selbstzerstörend, täglich sich vernichtend, um täglich sich neu aufzubauen, ewig sich wiederholend, aber immer mit gesteigerter Kraft und aus gespannterem Gegensatz. Er will nicht das Leben meistern, sondern das Leben fühlen. Nicht der Herr sein, sondern der fanatische Leibeigene seines Schicksals. Und nur so, als der »Gottesknecht«, der Hingehendste aller, konnte er der Wissendste alles Menschlichen werden.
    Dostojewski hat die Herrschaft über sein Schicksal an das Schicksal zurückgegeben: dadurch wird sein Leben gewaltig über die zufällige Zeit. Er ist der dämonische Mensch, Untertan den ewigen Mächten, und in seiner Gestalt ersteht mitten im klaren dokumentarischen Licht unserer Epoche noch einmal der schon vergangen geglaubte Dichter mystischer Zeiten, der Seher, der große Rasende, der Schicksalsmensch. Etwas Urzeitliches und Heroisches liegt in dieser titanischen Gestalt. Steigen die anderen literarischen Werke wie beblümte Berge aus den Niederungen der Zeit, Zeugen einer gestaltenden Urkraft zwar noch, aber schon gesänftigt in Dauer und zugänglich selbst in ihren Höhen, so scheint die Kuppe seiner Schöpfung, phantastisch und grau, ein vulkanisches, unfruchtbares Gestein.Aber aus dem Krater seiner zerrissenen Brust reicht Glut bis zum untersten feurig-flüssigen Kern unserer Welt: hier sind noch Zusammenhänge mit aller Anfänge Anfang, mit dem Elementaren der Urkraft, und schaudernd spüren wir in seinem Schicksal und Werk die geheimnisvolle Tiefe aller Menschlichkeit.
     
     
     
     
    Realismus und Phantastik
    Was kann für mich phantastischer sein als die Wirklichkeit?
    Dostojewski
    Wahrheit, die unmittelbare Wirklichkeit seines begrenzten Seins sucht der Mensch bei Dostojewski: Wahrheit sucht auch der Künstler in Dostojewski. Er ist Realist und ist es so konsequent – immer geht er ja an die äußerste Grenze, wo die Formen ihrem Widerspiel: dem Gegensatz so geheimnisvoll ähnlich werden –, daß diese Wirklichkeit jeden an das Mittelmaß gewöhnten täglichen Blick phantastisch anmutet. »Ich liebe
    den Realismus bis dorthin, wo er an das Phantastische reicht«, sagt er selbst, »denn was kann für mich phantastischer und unerwarteter, ja unwahrscheinlicher sein als die Wirklichkeit?« Die Wahrheit – dies entdeckt man bei keinem Künstler zwingender als bei Dostojewski – steht nicht hinter, sondern gleichsam gegen die Wahrscheinlichkeit. Sie ist über die Sehschärfe des gemeinen, des psychologisch unbewehrten Blickes hinaus: wie im Wassertropfen das unbewaffnete Auge noch klare spiegelnde Einheit, das Mikroskop aber wimmelnde Vielfalt, myriadenhaftes Chaos von Infusorien schaut, so erkennt der Künstler mit dem höheren Realismus Wahrheiten, die widersinnig scheinen gegen die offenbaren.
    Diese höhere oder diese tiefere Wahrheit zu erkennen, die gleichsam tief unter der Haut der Dinge liegt und schon nah dem Herzpunkt aller

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