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Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Titel: Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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nutzlosen Treue der Totenmasken. Man sieht den Toten, die Figur, nicht das Leben darin. Aber genau, wo jener Naturalismus endet, beginnt erst der unheimlich große Naturalismus Dostojewskis. Seine Menschenwerden plastisch erst in der Erregtheit, in der Leidenschaft, im gesteigerten Zustand. Während jene versuchen, die Seele durch den Körper darzustellen, bildet er den Körper durch die Seele: erst wenn die Leidenschaft seines Menschen die Züge strafft und spannt, das Auge sich feuchtet im Gefühl, wenn die Maske der bürgerlichen Stille, die Seelenstarre, von ihnen abfällt, wird sein Blick erst bildhaft. Erst wenn seine Menschen glühen, tritt Dostojewski, der Visionär, an das Werk, sie zu formen.
    Absichtlich sind also und nicht zufällig bei Dostojewski die anfänglich dunkeln und ein wenig schattenhaften Konturen der ersten Schilderung. In seine Romane tritt man ein wie in ein dunkles Zimmer. Man sieht nur Umrisse, hört undeutliche Stimmen, ohne recht zu fühlen, wem sie zugehören. Erst allmählich gewöhnt sich, schärft sich das Auge: wie auf den Rembrandtschen Gemälden beginnt aus einer tiefen Dämmerung das feine seelische Fluidum in den Menschen zu strahlen. Erst wenn sie in die Leidenschaft geraten, treten sie ins Licht. Bei Dostojewski muß der Mensch immer erst glühen, um sichtbar zu werden, seine Nerven müssen gespannt sein bis zum Zerreißen, um zu klingen: »Um eine Seele formt sich bei ihm nur der Körper, um eine Leidenschaft nur das Bild.« Jetzt erst, da sie gleichsam angeheizt sind, da in ihnen der merkwürdige Fieberzustand beginnt – alle Menschen Dostojewskis sind ja wandelnde Fieberzustände –, setzt sein dämonischer Realismus ein, beginnt jene zauberische Jagd nach den Einzelheiten, jetzt erst schleicht er der kleinsten Bewegung nach, gräbt das Lächeln aus, kriecht in die krummen Fuchslöcher der verworrenen Gefühle, folgt jeder Fußspur ihrer Gedanken bis in das Schattenreich des Unbewußten. Jede Bewegung zeichnet sich plastisch ab, jeder Gedanke wird kristallen klar, und je mehr sich die gejagten Seelen ins Dramatische verstricken, um so mehr glühen sie von innen, um so durchsichtiger wird ihr Wesen. Gerade die unfaßbarsten, die jenseitigsten Zustände, die krankhaften, die hypnotischen, die ekstatischen, die epileptischen haben bei Dostojewski die Präzision einer klinischen Diagnose, den klaren Umriß einer geometrischen Figur. Nicht die feinste Nuance ist dann verschwommen, nicht die kleinste Schwingung entgleitet dann seinen geschärften Sinnen: gerade dort, wo die anderen Künstler versagen und, gleichsam geblendet vom übernatürlichen Licht, den Blick wegwenden, dort wird Dostojewskis Realismus am sichtbarsten. Und diese Augenblicke, da der Mensch die äußersten Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht, da Wissen schon fast Wahnwitz wird und Leidenschaft zum Verbrechen, sie sind auch die unvergeßlichsten Visionen seines Werkes. Rufen wir uns das Bild Raskolnikows in die Seele, so sehen wirihn nicht als schlendernde Gestalt auf der Straße oder im Zimmer, als einen jungen Mediziner von 25 Jahren, als Menschen von diesen und jenen äußeren Eigenheiten, sondern in uns ersteht die dramatische Vision seiner irren Leidenschaft, wie er mit zitternden Händen, kalten Schweiß auf der Stirn, gleichsam mit geschlossenen Augen die Treppe des Hauses hinaufschleicht, wo er gemordet hat, und in geheimnisvoller Trance, um seine Qualen noch einmal sinnlich zu genießen, die blecherne Klingel an der Tür der Ermordeten zieht. Wir sehen Dimitri Karamasow in den Purgatorien des Verhörs, schäumend vor Wut, schäumend vor Leidenschaft, den Tisch zertrümmern mit seinen rasenden Fäusten. Immer sehen wir bei Dostojewski den Menschen erst bildhaft im Zustande der höchsten Erregtheit, am Endpunkte seines Gefühles, so wie Leonardo in seinen grandiosen Karikaturen die Groteske des Körpers, die Abnormität des Physischen zeichnet, dort, wo sie über die gemeine Form hervordrängt, so faßt Dostojewski die Seele des Menschen im Augenblick des Überschwangs, gleichsam in den Sekunden, da sich der Mensch über den äußersten Rand seiner Möglichkeiten vorbeugt. Der mittlere Zustand ist ihm wie jeder Ausgleich, wie jede Harmonie, verhaßt: nur das Außerordentliche, das Unsichtbare, das Dämonische reizt seine künstlerische Leidenschaft zum äußersten Realismus. Er ist der unvergleichlichste Plastiker des Ungewöhnlichen, der größte Anatom der reizbaren und kranken Seele, den die

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