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Drei Wunder (German Edition)

Drei Wunder (German Edition)

Titel: Drei Wunder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Bullen
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der Tür in der Ecke. Sie streckte die Hand aus, griff nach dem kalten Messingtürknauf und wartete einen Moment.
    Es war beinahe, als könne sie Violet spüren, wie sie auf der anderen Seite auf sie wartete.
    Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken, die Nackenhärchen richteten sich auf, und schnell schloss Olivia die Tür.
    Der dünne weiße Vorhang blähte sich auf, und sie trat ans Fenster. Als sie es aufzog, drangen die Geräusche der Stadt herein – das Heulen einer Autoalarmanlage, das stete Rauschen des Verkehrs auf der nassen Straße, Stimmen von irgendwelchen abendlichen Unterhaltungen –, es war, als hätte sie den Ton eines Films eingeschaltet, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass sie ihn sich überhaupt ansah.
    Bevor sie noch wusste, was sie tat, hatte Olivia sich durch das Fenster geschoben und war auf den wackligen winzigen Balkon geklettert, der vom abendlichen Regenschauer noch glitschig war. Sie richtete sich vorsichtig auf und sah nach unten. Vom dritten Stock aus kam ihr die Stadt fremd und abweisend vor.
    Sie zog ihren Pulli enger um sich und benutzte einen Ärmel, um ein Stück des Geländers trocken zu wischen, lehnte sich dann dagegen und blickte hinauf in den Himmel.
    Zu Hause in Willis waren Violet und sie immer aus Olivias Fenster geklettert, hatten sich über die Regenrinne geschwungen und sich dann flach gegen das weiß gestrichene Dach aus Zedernholz gelehnt.
    Dann unterhielten sie sich flüsternd über den neuesten Klatsch, was normalerweise bedeutet hatte, dass Violet am meisten flüsterte. Olivia hatte hinauf in den klaren Nachthimmel geblickt und die Sternenkonstellationen mit ihrem Finger nachgemalt, und Violet hatte die Luft angehalten und nach einer Sternschnuppe Ausschau gehalten, damit sie sich etwas wünschen konnte. Es hatte sie die Art von Stille umgeben, die einem fast Angst machte, denn es war, als seien sie beide die einzigen Menschen, die auf dem ganzen Planeten noch übrig waren.
    Auf ihrem neuen Balkon versuchte Olivia jetzt, das Rauschen der Autos und die Unterhaltungsfetzen der vorbeigehenden Passanten zu ignorieren. Gelbe Gehsteiglaternen blendeten sie, als sie versuchte, die Umrisse der niedrigen Stadthäuser genauer zu betrachten, die sich weiter hinten gegen den Horizont erstreckten. Die spitzen Dächer verschmolzen ineinander gegen eine tintenblaue Himmelsdecke, dicker Nebel und schwere Wolken verdunkelten alle Sterne, die sich dahinter vielleicht versteckt haben mochten.
    Olivia wollte sich enttäuscht fühlen. Sie bemühte sich sogar, ihr früheres Zuhause zu vermissen. Aber eigentlich tat sie es nicht.
    Sie konnte nicht.
    Es war im Februar gewesen, als Mac und Bridget sich mit Olivia um den Wohnzimmertisch setzten und ihr mitteilten, dass sie nach den Ferien nicht wieder zurück an die Willis High gehen würde. Olivia erinnerte sich daran, wie sie durch eine viereckige Kristallvase auf die Umrisse der Fingerknöchel ihres Vaters gestarrt hatte. Dick und verzerrt hatten sie ausgesehen, während sie gegen den abgenutzten Eichentisch trommelten. Bridget hatte das Reden übernommen, ihre Stimme war ruhig und gefasst, als sei sie darauf vorbereitet, einen Wutausbruch oder zumindest eine leidenschaftliche Ablehnung zu erfahren.
    Olivia konnte sich nicht erinnern, ob sie tatsächlich überhaupt irgendetwas gesagt hatte. Wahrscheinlich ein oder zwei Fragen zur Organisation – Hatten sie schon einen Flug gebucht? Wann würden sie abreisen? –, aber jedes Wort, das sie gesprochen hatte, war in der ausdruckslosen Stimme von jemandem erfolgt, der nicht mehr genug Energie in sich hatte, um sich aufzuregen.
    In jener Nacht hatte sie in ihrem alten Himmelbett gelegen und versucht, sich selbst dazu zu bringen, irgendetwas zu fühlen. Das Gleiche hatte sie schon nach Violets Beerdigung getan – den ganzen Nachmittag war sie zu Hause wie ein Roboter von Zimmer zu Zimmer gegangen, ihr Gesicht erstarrt, ihr Körper schmerzend und leer. Sie hatte kein einziges Mal geweint, und wenn sie in den Spiegel starrte, der im Flur hing, fragte sie sich, ob es ihrem Körper helfen würde, sich daran zu erinnern, wie Empfindungen funktionierten, indem sie sich zwang, sich Einzelheiten über ihre Schwester ins Gedächtnis zu rufen.
    Sie erinnerte sich daran, wie Violets Nase zuckte und sich über der Stirn Fältchen bildeten, wenn sie verwirrt war. Die Art, wie ihr Lachen, ihr echtes Lachen, das für Sachen reserviert war, die wirklich richtig lustig waren, von ganz hinten aus

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