Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
versperrt mir den Zugang zu dem, was davor war.
Ja, ich werde erzählen müssen. Und Isabelle weiß dank ihrer Gabe schon längst, dass mir etwas Schreckliches geschehen ist. Sie weiß nur noch nicht genau, was.
Und ich ... ach, ich bin gerade dabei zu begreifen, dass auch ich es kann. Etwas vorhersehen. Auch mich hat dieser Fluch, dieser Familienfluch ereilt.
Das macht es nicht leichter. Oh nein. Ich will diese Gabe nicht. Ich habe nicht darum gebeten. Zu all den Schrecken, die ich erlebt habe, kommt dieser noch hinzu. Dass ich manchmal Dinge sehe, die erst geschehen werden.
Ich beginne, mich vorzubereiten zum Aussteigen. Das geht schnell. Der Rhythmus der Räder auf den Schienen verändert sich. Der Zug beginnt, über den großen Viadukt zu rollen, der direkt zum Bahnhof von Port Bou führt.
Damals, bevor es geschah, habe ich mir ausgemalt, dass ich mit Schlomo Laskarow, meinem Liebsten, gemeinsam diese Reise machen würde. Dass ich ihm alles zeigen würde, diese wunderbare Welt zwischen Fels und Meer hier an der Côte Rocheuse. Dass er meine Verwandten kennenlernt und ...
Nicht dran denken. Jetzt nicht. Es tut schon so weh genug. Er ist tot. Er ist einfach tot.
Ich schlüpfe in meine Schuhe, ziehe den Mantel an, vergewissere mich noch einmal, dass die Schnallen des Koffers richtig geschlossen sind. Zuunterst in diesem Koffer liegt das kostbare Gut, das zu finden ich vor einem halben Jahr von hier aus fortging: ein aus Gold gefertigter Buchstabe des hebräischen Alphabets, eines der drei Zeichen, mit denen meine Verwandte ihr magisches Rettungswerk vollbringen will.
Die grausigen Zukunftsvisionen Isabelles. Sie sieht in diesen ihren Gesichten nackte Menschenleiber, Berge von Toten, feurige Zeichen und Feuer, immer wieder Feuer. Und sie versteht diese Schrecken, die sie peinigen, als Mahnung an sich selbst: Wenn die Kabbala – und das glaubt sie fest – ihr das richtige Rüstzeug in die Hand gibt, ist sie gefordert, ein Wesen aus Lehm zu bauen, das belebt wird, um die Juden zu schützen, wie es schon einmal vor Jahrhunderten in Prag geschah. Den Golem mit seinen gewaltigen Kräften. Belebt durch die Kraft des Wortes. Des hebräischen Wortes für Wahrheit, das aus drei Zeichen zusammengesetzt wird. Das Wort Emeth = Wahrheit.
Und ich, Leonie Lasker, bin nach Isabelles kabbalistischen Berechnungen eingebunden in dies Werk. Ich bin diejenige, die die Zeichen herbeizuschaffen hat. In jedem Jahr eines. Von meiner Hand in ihre Hand zu übergeben.
Nun liegt der Buchstabe Taw, eins der Zeichen, die das Wort Emeth bilden, zuunterst in meinem Koffer.
Ich weiß nicht, ob ich all das Geheimnisvolle verstehe. Ich weiß nur, dass ich es glauben will. Ich will, dass es so ist. Denn dieser Buchstabe ist mit Blut erkauft. Mit dem Blut meines Liebsten. Und das darf nicht umsonst gewesen sein.
HERMENEAU
1
Im Bahnhof von Port Bou, dem letzten, bevor der Zug Frankreich verlässt und in die finster gähnende Öffnung eines langen Tunnels fährt, sitzen zwei alte Leute im Vorraum der Station.
Isabelle und Gaston. Sie warten auf die junge Frau, die aus Deutschland kommt. Es ist später Nachmittag.
Der Himmel ist wie erstarrt. Es ist Winter an der Côte Rocheuse.
Die beiden haben sich in Pelze gehüllt.
Isabelle zerrt mit nervösen Fingern an ihrem Otterfellmantel, zieht den Kragen fester um den Hals, streicht durch das langhaarige Vlies. Dann fährt sie sich durchs Haar, ringt die Hände im Schoß, bis Gaston den Arm ausstreckt und seine Hand beruhigend auf die ihre legt.
»Liebes!«
»Entschuldige«, sagt sie, ihre tiefe Stimme klingt heiser. »Das Warten!«
»Du hast ein halbes Jahr lang gewartet.«
Sie macht eine Bewegung, als wolle sie etwas verjagen. »Je näher das Ziel ist, desto mehr wächst die Ungeduld.«
»Fürchtest du dich?«, fragt der alte Mann leise.
Sie antwortet nicht. »Ich fürchte mich sehr«, fährt er fort. »Ich fürchte mich vor dem Moment, wenn der Zug einfährt und sich die Abteiltür öffnet. Sie steigt aus ... Was wird sein? Du weißt es besser als ich, dass ihr etwas Furchtbares zugestoßen sein muss. Weißt es anders als ich. Du hast es vorhergesehen.«
Isabelle zieht an ihrem Mantel.
»Blut«, murmelt sie. »Es muss Blut gekostet haben, das Ding, das sie mitbringt. So sollte der Anfang nicht sein. Aber dies Blutsagt mir einmal mehr, wie dringend notwendig es ist, das Werk zu vollbringen.«
Sie springt auf, mit einer jener schnellen, wilden Bewegungen, die ihr Alter Lügen strafen.
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