Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
Verlässt die Station, begibt sich nach draußen. Gaston folgt ihr.
Sie lehnt an der Wand des Bahngebäudes, den Kopf zurückgelegt, tief atmend.
Das Gebirge liegt in violettem Dunst. Von weit unten donnert die unsichtbare Meeresbrandung.
Sie spürt seine Nähe. »Du weißt, was für schreckliche Visionen ich hatte!«, murmelt sie. »Gefahr für das Mädchen. Gefahr, ihr Liebstes zu verlieren. Flammen waren dabei.«
»Ich hatte es ihr nach Berlin geschrieben.«
»Ja. Doch ich fürchte, sie hat es falsch gedeutet. Wir wissen nichts.«
»Ich habe es aus der Zeitung. Es soll Unruhen gegeben haben.«
Isabelle lacht nervös auf. »Was schreiben französische Zeitungen schon groß über Berlin.« Sie dreht den Kopf hin und her, als habe sie Schmerzen. »Sie wollte nicht allein hierherkommen. Sie wollte jemanden mitbringen. Aber nun kommt sie doch ohne Begleitung.«
»Ja.«
»Etwas sehr Schlimmes muss geschehen sein.«
Gaston erwidert nichts.
Die Erde beginnt zu vibrieren. Der Viadukt summt und dröhnt. Der Zug.
Der Mann legt der Frau behutsam den Arm um die Schulter und führt sie zurück ins Innere der Station. Sie durchqueren den Vorraum, in dem sie gesessen haben, und betreten die Bahnhofshalle. Vorher war sie wie ausgestorben, nun belebt sie sich. Der Stationsvorsteher erscheint, setzt die Mütze auf, grüßt das Paar, indem er ehrerbietig zwei Finger an den Mützenschirm legt, öffnet die Schranke. Die Zollbeamten folgen ihm, schnallen im Gehen das Koppel fest, streifen die Handschuhe über.
Schnaufend, in einer Wolke weißen Dampfes, fährt der ExpresszugParis-Barcelona ein, hält mit kreischenden Bremsen hier an Frankreichs Grenze.
Gaston und Isabelle stehen und fassen sich an den Händen.
Der Schaffner öffnet von innen die Wagentür, lässt die Tritte herunter, reicht der einzigen Aussteigenden hilfreich die Hand.
Dann sehen sie ihr entgegen: Da steht Leonie Lasker mit ihrem Koffer auf dem Bahnhof von Port Bou, wo sie vor einem halben Jahr eingestiegen ist, um in Berlin einen Buchstaben zu entdecken und hierherzubringen.
2
Sie ziehen sie in ihre Arme, stumm, heftig, erst Isabelle, dann Gaston, und Leonie erwidert die Umarmung mechanisch. Sie empfindet nichts dabei, weder Freude noch Aufregung. Sie ist einfach da.
»Es ist in dem Koffer ganz zuunterst«, sagt sie statt einer Begrüßung, so, als hätte sie erwartet, dass Isabelle sofort danach fragt oder verlangt, dass sie es gleich vorzeigt, das goldene Ding, das Zeichen.
Dann greift sie sich an den Hals, zieht den Mantel zusammen – genau die gleiche Bewegung wie vorhin Isabelle – und sagt: »Ich friere.«
Und wird sich klar, dass sie eigentlich nichts anderes erwartet hat, als auch hier zu frieren. Überall ist es kalt für sie. Warum sollte es hier an der Côte Rocheuse anders sein?
Gaston schält sich sofort aus seinem fellgefütterten Tuchmantel und legt ihn ihr um die Schultern. Er greift den Koffer, Isabelle nimmt sie in den Arm. So gehen sie zu Gastons großer schwarzer Limousine, die vor dem Bahnhof auf sie wartet. Doch bevor sie die Bahnhofshalle verlassen, wirft Leonie noch einen Blick zurück nach dem davonfahrenden Zug, als müsse sie jemanden bitten mitzukommen.
Jemanden, der nicht mehr reisen konnte ...
»Möchtest du vorn sitzen oder im Fonds?«, fragt Gaston, und sie erwidert: »Das ist mir egal.«
Die beiden alten Leute wechseln einen Blick des Einverständnisses, dann setzt sich Isabelle nach hinten und überlässt der Jungen den Platz neben ihrem Mann.
Der Wagen gleitet die weiten Schleifen der Serpentinen hinunter,biegt kurz vor dem Städtchen Cerbère ab und klettert wieder hinauf zum Château Hermeneau, dem Schloss von Leonies Verwandten, die sie erst seit dem Sommer kennt.
Dieser Sommer, als das junge Mädchen aus Berlin unbedarft und neugierig einer Einladung von Leuten folgte, die von sich behaupteten, zu ihrer Familie zu gehören. Und als sie denn da war, in dieser herrlichen, rauschenden, brausenden Landschaft am Fuße der Pyrenäen, da wurde sie als Erstes damit konfrontiert, dass sie jüdische Vorfahren hatte. Und dann, dass eine Aufgabe auf sie wartete. Die Buchstaben zu suchen; für das magische Werk ...
Die Landschaft ist verschleiert. Im Sommer leuchtete sie in den buntesten Farben. Aber das kommt Leonie so ganz richtig vor. Für sie gibt es keine bunten Farben im Augenblick.
Sie sieht aus dem Fenster, nach rechts und links. Das alles hat sie einmal entzückt. Nun ist es ihr gleichgültig. Wie alles
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