Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
wiederzufi nden. »Was hast du vor, Schlomo?«
Er knöpft sich die Manschetten zu (es ist das Hemd vom Vortag, normalerweise trägt er nichts zweimal).
»Als Erstes«, sagt er, »mache ich einen kleinen Abstecher in die Schendelgasse und hole dir Isabelles Buchstaben. Dann überlegen wir, was wir weiter tun. Eins jedenfalls tun wir auf alle Fälle: Morgen unser Stück spielen!« Er deklamiert: »Solange warmes Blut mir in den Adern fließt, steht Zion fest ...«
Dann beugt er sich zu ihr, streift ihre Lippen mit dem Mund, ein flüchtiger Kuss. »Gibt’s schon Kaffee? Ja, ich rieche es. Ich trink schnell eine Tasse. Deck mal den Tisch. Zum Frühstück bin ich zurück, dann halten wir Kriegsrat.« –
Folgsam bereite ich den Frühstückstisch vor. Die Eltern werden auch bald aufstehen, Selde sicher vor ihrem Mann. Sie wird sich wundern, wo ihr Sohn hin ist in aller Frühe (es geht auf zehn Uhr!). Was soll ich sagen? Er wird es selber erklären müssen.
Unruhig gehe ich in mein Zimmer, trete ans Fenster. Ausnahmsweise scheint einmal die Sonne, es ist ein herrlicher klarer Tag.
Von hier aus habe ich zuerst den »Schatten« gesehen, den Mann, der für mich kein Gesicht hat. Aber seitdem Schlomo ihn gestellt hat vor drei Tagen, war der verschwunden.
Mir ist so bange, so bange.
Zurück in die Küche. Um überhaupt etwas zu tun, fange ich an, die Post zu sortieren. Fahre da fort, wo ich aufgehört habe, als ich diesen Umschlag sah.
Briefe für den Prinzipal, Rechnungen für Madame, »Süße Billettchen« für den Hauptdarsteller. Und dann ist da ein Brief für mich. An Leonie Lamedé c/o Laskarow.
Kein Absender, aber die Handschrift ist unverkennbar. Mein Vater.
Ich fetze den Umschlag weg. Keine Anrede, keine Unterschrift.
»Die Familie Laskarow sollte vor der Aufführung im Concordia-Theater möglichst nicht aus dem Haus gehen oder stets ein Taxi benutzen.«
Gütiger Gott!
Ich schlüpfe in die Schuhe, reiße meinen Mantel vom Haken, gerade in dem Augenblick, als Selde auf der Bildfl äche erscheint. »Leonie, Liebes, wo willst du denn hin in aller Frih?«
»Ich bin ganz schnell zurück!«
Ich rase die Stufen hinunter, und als ich auf dem Platz vor dem Haus bin, bleibe ich stehen.
Leonie, wo willst du denn hin?
Das ist doch Wahnsinn. Wo soll ich ihn fi nden? Er wird wahrscheinlich schon auf dem Rückweg sein, wird in irgendeiner U-Bahn sitzen, in einer, die dann an meiner vorbeifährt ...
Durch meinen Kopf schießen die Gedanken.
Wie viel Zeit ist vergangen, seit er aus dem Haus ist? Keine Ahnung. Ich rekapituliere. Ich habe den Tisch gedeckt. Er steigt in den Zug. Vier Stationen. Ich lege das Geschirr auf, tue die Brötchen in einen Korb, hole dies und das aus dem Eisschrank. Bin fertig mit Tischdecken. Ich sehe aus dem Fenster, auf die sonnige und friedlich leere Promenade herunter. Er geht vom Bülowplatz durch die Schendelgasse. Nein, er läuft. Er will schnell zurück sein. Möglichst, ehe die Eltern aufstehen. Ich beginne, die Post zu sortieren. Er be nutzt den Schleichweg ins Magazin und holt den Beutel aus dem Schrank.
Ich fi nde den Brief. Die Warnung meines Vaters.
Er ist schon auf dem Rückweg.
Es hat keinen Zweck. Ihm nachzufahren ist sinnlos. Ich muss hier auf ihn warten. Direkt am Ausgang der U-Bahn.
Ich stehe an der Treppe, klammere mich ans Geländer. Schließe die Augen. Feuer! Es brennt! Nein! Nicht schon wieder!
(Nicht schon wieder. Hat das nicht auch Isabelle geschrien, damals in Hermeneau?)
Nein, ich kann hier nicht stehen bleiben. Ich muss zu ihm. Wir werden uns nicht verfehlen. Bestimmt nicht.
Als würde mich eine Faust vorwärtsstoßen, rase ich die Treppen hinunter, erwische die U-Bahn, die eingefahren ist, gerade noch vorm Schließen der Türen.
Alles um mich herum ist wie im Nebel. Ich stehe keuchend an der Tür, presse die Hände gegen die Brust. Sind da noch andere Fahrgäste im Wagen? Ich weiß es nicht.
Die erste Haltestelle, die zweite, die dritte. Schneller, schneller! Der Zug hält unendlich lange auf jeder Station, will mir scheinen. Warum geht es nicht vorwärts?
Eine Bahn in der Gegenrichtung fährt am Alexanderplatz auf dem anderen Gleis ein. Ich recke den Hals. Wenn er dort drin ist, wenn wir uns verpassen ...
Beinah wäre ich ausgestiegen und rübergelaufen. Aber da gehen die Türen schon zu.
Schönhauser Tor, Bülowplatz, endlich!
Ich stolpere aus dem Zug, rase die Treppen hoch. Und dann höre ich schon das schrille Läuten der Feuerwehrwagen, die
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