Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
Szene, auf die Leonie mit besonderer Spannung wartet. Sie spielt in dem berühmten Hohlweg (nicht dass es auf der Bühne einen gäbe ... !), und Tell wartet dort, um den Landvogt Gessler zu erschießen. Wenn Albert Bassermann als Tell, hingeduckt auf ein Podest, seine Skrupel und Zweifel herausschluchzt, wenn er dann fast übergangslos hochaufgerichtet, mit verändertem klaren Tonfall seinen Entschluss verkündet, das ist jedes Mal wieder atemberaubend. Danach tritt die Figur auf, deren Rolle Leonie für sich selbst »vorgesehen« hat, wenn sie erst einmal auf den Brettern, die die Welt bedeuten, stehen wird (und dass das geschehen wird, daran zweifelt sie keinen Augenblick). Es ist die Armgard, im Stück eine arme Bäuerin, deren Mann der Landvogt ins Gefängnis geworfen hat und die um seine Freilassung bittet: Hier, im »Hohlweg«, wo er ihr nicht ausweichen kann, stellt sie den Mächtigen.
Leonie Lasker steht oben, wo es am heißesten ist. Aber das spürt sie nicht.
Wenn Johanna Mend, die Darstellerin der Armgard, auftritt, das Haar verwirrt, bleich geschminkt, die barfüßigen Kinder an der Hand, ist ihr zumute, als stünde sie selbst auf der Bühne und würde mit dem bewunderten Kortner die Szene spielen. Sie bewegt leisedie Lippen, kennt jedes Wort. (»Nein, nein, ich weiche nicht von diesem Platz, bis mir der Vogt den Mann zurückgegeben! Schon in dem sechsten Mond liegt er im Turm und wartet auf den Richterspruch vergebens ...«) Sie kann jede Geste, vollzieht gleichsam mit ihrem Körper den wilden, ausdrucksstarken »Tanz« nach, in dem die beiden Darsteller über Treppen und Podeste jagen und sich in immer anderen Posen umeinander drehen; Armgards Verzweifl ung trifft auf Gesslers Hochmut, Armgards Flehen auf Gesslers Ablehnung.
Drei Jahre ist es her, 1920, als Jessner seinen »Wilhelm Tell« inszenierte, da hatte es einen großen Skandal gegeben. Ein Stück, das in der Schweiz spielt, und der Regisseur streicht im Bühnenbild die Schweiz! Keine Berge, kein See, kein Hohlweg bei Küssnacht, nur Podeste und Stufen und schwere schwarze Vorhänge, vor denen sich die Schauspieler bewegen – schnörkellos, auf das Wesentliche konzentriert. Inzwischen ist die Inszenierung längst anerkannt; nicht nur in Berlin, in ganz Deutschland, und darüber hinaus ist Jessners neue Art, Theater zu machen, zum Vorbild geworden.
Menschen. Menschen sind Theater, nicht verstaubte Kulissen oder pompöse Kostüme.
In der Schule haben sie ihnen noch Fotos von Inszenierungen gezeigt, in denen man versucht hat, alles so zu machen, wie es »in Wirklichkeit« gewesen sein könnte. Aber seit Leonie die Aufführungen der großen neuen Berliner Regisseure besucht, weiß sie, dass es darauf nicht ankommt. Theater, das sind Gefühle und Bewegungen, das ist das Alte, das für heute gültig gemacht wird. Und das regt manche auf und andere an. Für Leonie jedenfalls ist es die geniale Art, ein Stück darzustellen.
Das hinreißende Schlussbild. Menschen, die auf den Treppen und Erhöhungen der Bühne so etwas wie eine lebendige Landschaft formen: das befreite Land. Der vielstimmige Jubel. Endlich die Schlusssentenz des jungen Adligen Rudenz: »Und frei erklär ich alle meine Knechte!«
Vorhang. In Leonies Kehle steigt jener Jubel auf, den sie immernach einem Theaterabend empfi ndet, wenn er so war wie dieser. Am liebsten möchte sie losschreien vor Begeisterung. Sie klatscht sich die Hände wund und eilt dann, als Letzte beinah, die Stufen vom obersten Rang hinunter, mehr gesprungen als gelaufen. Hinaus in die laue Sommernacht, erfrischend nach der Hitze da drin. Sie atmet tief durch. Rechts und links die beiden Dome am Gendarmenmarkt, vor ihr der freie Platz mit dem weiß glänzenden Schillerdenkmal. Weite. Sie trinkt die Abendluft in vollen Zügen. Der Wind fährt ihr ins Haar (sie trägt es seit diesem Frühling kurz geschnitten, als »Bubikopf«). Was für ein Gefühl, nach so einem wun derbaren Theatererlebnis, beschwingt und erhoben zugleich, ins Freie zu kommen!
Sie nimmt die letzten Treppenstufen nach unten, bleibt einen Augenblick stehen, sieht, wie die Besucher dieses Abends sich langsam zerstreuen, zu ihren Wagen gehen – manchen hält ein Chauffeur die Tür auf – oder, wie sie jetzt gleich, auf den Eingang der U-Bahn zueilen.
Ende der Theatersaison. Erst im Herbst wird sie wieder losmarschieren können, zu Erwin Piscator an die Volksbühne am Bülowplatz, wo es vor allem die grellen modernen Stücke und Inszenierungen
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