Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
gerade in die Hirtenstraße einbiegen.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Schwarzer Rauch dahinten. Ja, es ist die Schendelgasse. Das Magazin. Es brennt! Feuer! Schlomo!
Ich stürze vorwärts. Leute laufen mir entgegen, fuchteln mit den Armen, schreien. Stehen mir im Weg. Ich komme nicht mehr von der Stelle.
Es ist wie im Traum. Als würde ich mich unter Wasser bewegen.
Da ist er! Gott sei gedankt, da ist Schlomo! Kommt aus der Hirtenstraße, läuft mir mit wehendem Mantel entgegen, erblickt mich. Schwenkt den abgeschabten Lederbeutel in der Hand. Lächelt sogar.
Aber dann verändert sich seine Miene. Zorn? Erstaunen? Seine leuchtenden Augen sind nicht mehr auf mich gerichtet, sondern auf irgendetwas hinter mir.
Ich drehe mich um. Die schwarze Gestalt. Kein Gesicht.
Hand, die sich nach unten bewegt, zur Tasche im schwarzen Mantel.
(Ich mache einen Schritt auf das da zu, noch einen, ich komme nicht vorwärts. Wasser um mich ...)
Hand, die eine Pistole hervorzieht. Die sie hebt.
Ich schreie.
Ich höre den Schuss. Nur einen. Er peitscht dicht an mir vorüber, macht mich kurz taub. Ich muss die Augen schließen. Als ich sie wieder öffne, ist niemand mehr vor mir.
Schlomo? Ich fahre herum.
Er vollführt genau die Bewegung wie in der letzten Szene als Sternensohn. Führt die Hand zur Brust, besieht sie voll Erstaunen, blickt dann zu mir. Und ich stehe wie festgenagelt.
Er sieht noch einmal auf seine Hand. Dunkelrotes Blut.
Dann bricht er zusammen. Ein freier Raum um ihn plötzlich. Ich stürze vorwärts, falle, raffe mich auf. Bin bei ihm. Werfe mich
auf ihn.
»Nimm mal«, sagt er mit einer winzigen Kopfbewegung. Der Beutel ist voll Blut, alles ist voll Blut.
»Nicht so schlimm«, flüstert er. Dann, mit einem Lächeln: »Con el pie derecho y al nombre ... «
Seine Augen verlöschen.
Irgendwelche Leute scharen sich um uns und schreien etwas, was ich nicht verstehe.
Con el pie derecho y al nombre del Dio.
EPILOG
Der Eisregen schlägt gegen die Scheiben. Unter mir rumpeln die Räder. Ich verlasse die Stadt.
Hinter mir bleiben zurück mein Theater und mein toter Liebster.
Mendel und Selde hatten mich gebeten, mit ihnen Schiwa zu sitzen, die siebentägige Zeit der Trauer, wie es die Sitte ist. Aber das geht ja nicht.
Das »Taw« muss schnell zu Isabelle. So schnell wie nur möglich. Ein solcher Buchstabe, der mit Blut erkauft ist, wird gewiss dem Wort besondere Kraft verleihen.
Als ich Mendel Laskarow von dem Buchstaben erzählte und von seiner Bedeutung, blickte er mich nur an. »Nimm dir, was du willst, Leonie, mein Kind.«
Gut, dass ich mein Reisegeld hatte. So muss ich niemanden um etwas bitten.
Von meinem Vater habe ich nichts wieder gehört. Wozu auch. Der Eisregen schlägt gegen die Scheiben. Unter mir rumpeln die Räder. Ich verlasse die Stadt.
Von Zeit zu Zeit hebe ich die Hand und befühle den Kragen meines Kleides. Selde selbst hat ihn mir eingeschnitten, zum Zeichen der Trauer. (Früher, so erzählt man, zerriss man den Saum des Gewandes.) Sie hat fassungslos geweint dabei. Ich nicht. Ich kann nicht weinen.
Aber wenn ich diesen verletzten, zerfetzten Kragen berühre, dann ist es jedes Mal, als würde ich eine offene Wunde fühlen, mich vergewissern, dass sie noch frisch ist und nicht zuheilt. Ich brauche sie, diese Wunde.
Isabelle, bau bald deinen Helfer. Und wenn dieser Mann aus Lehm vielleicht ein Herz aus Stein braucht: Nimm meins.
Waldtraut Lewin, geboren 1937, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Berlin und arbeitete als Opernübersetzerin, Dramaturgin und Regisseurin zunächst am Landestheater Halle und dann am Volkstheater Rostock. Seit 1978 lebt sie als freischaffende Autorin von Romanen, Hörspielen und Drehbüchern, für die sie zahlreiche Auszeichnungen erhielt. Seit 1995 schreibt sie Jugendromane.
»Drei Zeichen sind die Wahrheit« ist der zweite Band der Saga um die jüdische Familie Lasker.
Von Waldtraut Lewin ist bei cbj/ cbt erschienen:
cbj:
Goethe (12796)
cbt:
Columbus (30320)
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