Dreimal Liebe
Vergangenheit.
Joel saß auf dem Boden, den Blick auf die Tür gerichtet. Dort, wo vor Stunden Hailies Rücken nach draußen verschwunden war. Mit leisen Sohlen hatte sie sich in sein Leben geschlichen, und mit ebenso leisen Sohlen war sie wieder entschwunden. Noch niemals erschien ihm die Halle so leer wie an diesem Morgen. Und je länger er auf die Tür starrte, desto mehr fraß sich die Gewissheit in sein Bewusstsein, dass diese Leere von heute an für immer bleiben würde. Er würde Hailie nie wieder sehen. Wie viele andere Sachen gehörte auch sie jetzt dem Reich der Vergangenheit an, dem Land der Menschen und liebgewonnenen Gegenstände, die Joel unwiederbringlich verloren hatte.
Die Tage zogen sich in die Länge wie die Rauchschwaden einer Zigarette in schwülen Sommernächten. Das war die zweite tückische Seite der Zeit, denn wenn sie vergehen sollte, dann tat sie es einfach nicht.
An einem Dienstag verließ Joel zum ersten Mal wieder die Halle. Er ging zurück zu der Gasse, wickelte den toten Katzenkörper in Zeitungspapier und trug ihn zum Prospect Park. Genau dorthin, wo das angeblich kranke Mädchen mit Cecile gespielt haben soll. Er suchte eine schöne Stelle heraus, eine ruhige, fernab von den Spaziergängen, direkt unter einer riesengroßen alten Birke. Dort grub er mit seinen Händen ein Loch und bettete Cecile auf hineingelegte Herbstblätter. Nachdem er das Erdreich wieder zugeschoben hatte, steckte er in die Mitte des kleinen Hügels einen Zweig, der, so hoffte er, im Frühling zu blühen begann.
Jedes Mal, wenn die Luft in der Halle für Joel zu dünn wurde, kehrte er zurück an diese Stelle. Manchmal verbrachte er ganze Stunden dort. Lehnte sich gegen den Baumstamm und spürte diese seltsam betäubende Wirkung, die von diesem Ort ausging. Nur dort schien er noch fähig zu sein, frei durchzuatmen; nur dort ließ das Gefühl des Erstickens für eine Weile von ihm ab. Vielleicht weil Cecile die letzte Verbindung zu Hailie war, vielleicht weil er dem Lebensinhalt eines guten Freundes die letzte Ehre erwies, vielleicht weil ihm bewusst wurde, dass alles ein Ende hatte und nicht für die Ewigkeit andauerte, vielleicht aber auch, weil er hier wie nirgendwo sonst begriff, dass die Taschen des letzten Hemdes eines jeden Menschen so leer sein würden wie seine zu Lebzeiten.
Der Wintereinbruch kam dieses Jahr spät und heftig. Ende November legte sich ein Mantel aus Schnee über die Stadt, zauberte weiße Dächer und tauchte die Welt in einen hellen, trügerisch friedlichen Schein. Nate und Joel versuchten, mit geklauten Utensilien die Fenster abzukleben, doch der Wind suchte und rüttelte so lange, bis er einen neuen Weg nach drinnen fand.
Sherlys Zustand hatte sich wieder verschlechtert. So wie das bei ihr immer war, ein ständiges auf und ab. Nur dass dieses Mal keins der Mittel anschlug, die Nate heranschaffte. Joel sah in den Gesichtern der anderen die gleiche böse Vermutung, die auch ihm auf der Zunge lag, aber niemand sprach sie aus. Nates Laune wurde von Tag zu Tag schlechter, und wenn man kein Opfer seiner unkontrollierten Wutausbrüche werden wollte, dann machte man den Bogen besser möglichst groß. Es gab eine Zeit, da hatten sich Joel und Nate alles anvertraut, waren sich gegenseitig in manch dunklen Stunden eine Stütze gewesen – Joel fragte sich, wo diese Zeit geblieben war. Wenn er heute in das Antlitz seines Freundes sah, erkannte er nicht mehr denselben Jungen, mit dem er einst ganze Nächte, bei halbleeren Flaschen Bier, über die Schönheit und Grausamkeit der Welt philosophiert hatte.
Louis dagegen tat irgendwann das, was ein jeder von ganzem Herzen liebender Mensch tat: Er stellte seine Trauer hinter das Glück der Liebsten. Vor ein paar Tagen hatte es einen Moment gegeben, da war er einfach nur da gesessen, ganz ruhig und mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Schließlich hatte er zu Joel gesagt: »Bestimmt spielt Cecile g-g-gerade mit dem Mädchen im G-Garten, hüpft mit ihr durch den hohen Sch-Schnee und ist g-glücklich. Bestimmt wird sie dem Mäd-Mädchen helfen können, Joel, bald wird es wieder g-ganz gesund sein.«
Joel hatte zum ersten Mal wieder in seine Augen geschaut, in dieses kindliche Braun, vor dem er sich so sehr gefürchtet hatte. Der Schmerz traf ihn noch tiefer, als er darauf vorbereitet gewesen war. »Ja … Ganz bestimmt«, sagte er leise. »Ganz bestimmt, Louis.«
An einem Dezembermorgen saß Joel auf der rustikalen Fensterbank, die einst
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