Dreimal Liebe
Ceciles Lieblingsplatz gewesen war, und sah nach draußen in die verschneiten Gassen. Sherly schlief, so wie sie das in den letzten Tagen fast immer tat, und Louis und Nate hatten sich aufgemacht, um Essen zu besorgen. Den Jungen mit den dunkelblonden Haaren stand die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben. Seine Schlafstätte war so groß geworden seit vier Wochen, viel zu groß für ihn allein. Und da war kein Hintern mehr, der gegen seinen streifte. Da war gar nichts.
Weiße, samtweiche Flocken fielen vom Himmel, verdeckten das letzte bisschen Grau auf den Straßen und blieben wie kleine Kristalle auf der einzig heilen Fensterscheibe haften. Joel fuhr mit den Fingern über das Glas, als könnte er die Kristalle dadurch berühren und die feinen Verästelungen unter seinen Fingerspitzen spüren. Erst ein leises, plötzlich auftretendes Klopfen konnte seine Aufmerksamkeit von dem Schauspiel ablenken. Er hob den Kopf, und wenig später öffnete sich knarzend die Tür. Wen Joel dort erblickte, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Aber mit einem Mal war es so viel heller in der Lagerhalle als zuvor.
Ein paar Decken vor dem Bauch zusammenhaltend, trat das Mädchen ein, sah sich zögerlich um und steuerte langsamen Schrittes auf Joel zu. Ihr Blick wechselte vom Boden zu seinem Gesicht und wieder zurück. Mit einem Meter Abstand blieb sie stehen, lehnte sich mit der Schulter gegen den Fensterrahmen und lächelte zaghaft. »Hallo«, sagte sie.
Joel spürte, wie irgendwas in seiner Brust zum Leben erweckte. »Hallo«, sagte er.
Hailie ließ den Blick aus dem Fenster schweifen, senkte den Kopf und durchbrach die Stille. »Ich habe euch Decken mitgebracht.«
Er schob einen Mundwinkel nach oben. »Danke«, sagte er. Auf Hailies Haaren waren vereinzelt ein paar Schneeflocken liegen geblieben. Joel hätte gern die Hand ausgestreckt, die Weichheit ihrer Haare gespürt und sie vom Schnee befreit.
»Ich dachte, du bist längst fort«, sagte er und sah auf das alte Fensterbrett.
»Nein, ich bleibe in New York. Ich muss nicht zu meinem Vater. Meine Mutter hat eingesehen, dass ich alt genug bin, das selbst zu entscheiden. Aber wir haben ihn für zwei Wochen besucht.«
Joel nickte. »Ist denn alles okay bei dir zu Hause?«
»Ja, ich denke schon. Es gab keinen Ärger, als ich wieder vor der Tür stand. Meine Mutter war einfach nur erleichtert. Das Einzige, das mich belastet, ist, dass sie sich andauernd Vorwürfe macht und mich am liebsten gar nicht mehr aus dem Haus lässt. Auch heute hat sie darauf bestanden, mich zu fahren.« Hailie blickte Richtung Tür. »Sie sitzt draußen im Auto und wartet auf mich.«
»Oh«, machte Joel und spürte ein Kratzen im Hals.
»Ja«, murmelte sie. »Ich habe nicht viel Zeit.«
Joel versuchte zu lächeln, scheiterte aber. Gemeinsam sahen sie aus dem Fenster.
»Ich habe noch etwas für dich dabei«, sagte sie schließlich, neigte den Kopf zur Seite und griff in die Hosentasche. Der leichte Wind ihrer Bewegung umspielte Joels Nase; ein Geruch von Shampoo, Duschgel und Waschmittel lag darin, und ganz viel Hailie.
Sie holte ein kleines schwarzes Gerät mit einem Kabel hervor und überreichte es ihm. »Das ist mein MP3-Player.« Sie blickte auf ihre jetzt leere Hand. »Ich habe keine Ahnung von Violinenmusik. Aber ich habe alle Lieder, die ich gefunden habe und die sich schön anhörten, zusammengesammelt.«
Joel starrte auf das kleine Gerät. Er räusperte sich. »Du hast mir Lieder aufgenommen?«
»Ja, ich dachte, du wirst dich freuen, aber … vielleicht war die Idee auch blöd.«
»Nein. Sie war nicht blöd. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Du schenkst mir deinen MP3-Player? Aber brauchst du ihn nicht selbst?«
»Mir ist es lieber, wenn du ihn hast«, sagte sie.
Joel schluckte, doch der Kloß in seinem Hals wollte sich keinen Zentimeter bewegen. »Danke«, brachte er hervor. So oft hatte er vorbeischreitende Passanten gesehen, die diese neue Generation der CD-Player mit sich herumgetragen hatten. Die kleinen Kopfhörer aus dem Pullover hängend, die Gedanken voll und ganz in die Musik vertieft. Bewundert und beneidet hatte er diese Leute, und nun … nun hielt er selbst so ein Gerät in den Händen. Und nicht nur irgendeins – es gehörte dem Mädchen. Von heute an hätte er eine greifbare Erinnerung an sie.
»Nur ein Lied habe ich nicht aufgespielt«, fuhr Hailie fort.
Joel hob den Kopf. »Welches?«
Hailies Finger fuhren die Kante des Fensterbretts nach. »Creep« von
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