Dreimal Liebe
bereits dunkel, die einzige Lichtquelle in der Halle bot die Kerze neben Joels Radio. Er sah die liegende Silhouette des Mädchens und spürte, wie es flau und gleichzeitig angenehm leicht in seinem Bauch wurde.
»Hallo«, sagte sie.
»Hallo«, antwortete er und legte sich neben sie. Der Schlafsack war so kalt wie die Umgebung, und Joels Finger bis auf die Knochen durchgefroren. Cathys Blick fiel auf seine geröteten Knöchel. »Wo warst du so lange?«
Er hob die Schultern. »Nirgendwo. Ein bisschen spazieren.«
»Geht’s dir nicht gut? Ist alles in Ordnung mit dir?«
Diese Worte wirkten befremdlich auf ihn, hatte er sie doch schon so lange nicht mehr gehört. »Ich denke«, murmelte er.
Das Mädchen musterte ihn aufmerksam, schwieg aber.
»Es tut mir leid, dass ich dich mit Louis allein gelassen habe.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, du musst dich nicht entschuldigen. Sherly war mit da und… Ich kann verstehen, warum du gegangen bist.«
Verständnis. Das wirkte nicht weniger befremdlich auf ihn als die Frage nach seinem Befinden.
»Wie geht es Louis?«, fragte er.
»Nicht besonders.« Sie atmete aus. »Gestern habe ich mir gewünscht, er würde aufhören zu weinen, und heute habe ich mir gewünscht, er würde es endlich tun … Er starrt nur vor sich hin. Heute Nachmittag hat er sich dann in den Kopf gesetzt, dass er Cecile besuchen will.« Cathy senkte den Blick. »Ich habe gesagt, dass wir keine Adresse von dem kleinen Kind hätten und … Wie er mich dann angeguckt hat, Joel. Ich fühle mich so mies.«
Er ließ den Blick über ihr Gesicht schweifen und spürte wie gestern das beklemmende Gefühl in seinem Hals. »Ich weiß«, antwortete er. »Ich weiß.«
Stille kehrte ein und das Mädchen strich gedankenverloren mit dem Finger über die Reißverschlussnarbe ihres Schlafsacks.
»Hailie?«, fragte Joel nach einer Weile.
»Ja?« Das Mädchen hob den Kopf.
Die Erkenntnis trat erst verzögert in ihre Augen. »Was, woher weißt du …« Sie brach ab.
Joel bettete die Wange auf seinen Oberarm. »Da hast du einen so schönen Namen und verschweigst ihn mir einfach«, flüsterte er.
In Hailies Gesicht spiegelten sich innerhalb von Sekunden die unterschiedlichsten Regungen ab. »Wie kommst du jetzt darauf? Ich meine …« Wieder schloss sich ihr Mund, ohne den Satz vollendet zu haben. Joel sah sie einen langen Augenblick an, als wolle er sich noch mal alle Details ihrer feinen Gesichtszüge einprägen, dann griff er langsam in seine Tasche und holte den Zettel hervor. Hailies Blick wanderte von dem Papier zu Joel und wieder zurück. Dann nahm sie es vorsichtig entgegen, faltete es auf, und es dauerte keine zwei Sekunden, da konnten ihre Finger vor Zittern das Blatt kaum noch halten.
Joel beobachtete ihre Reaktion, beobachtete, wie sie die Hand vor den Mund schlug, wie ihr Brustkorb sich immer schneller auf und ab bewegte, wie sie irgendetwas, was aus ihrer Nase laufen wollte, nach oben schniefte, und wie sie schließlich den Zettel beiseitelegte und das Gesicht in den Händen verbarg. Ihr Schluchzen spürte Joel bis in die Knochen. Er öffnete seinen Schlafsack, umfasste Hailie und zog sie an seine Brust. Bettete das Mädchen fest in seine Armen und fühlte ihr Zittern an seinem Körper. Er strich durch ihre Haare und legte das Kinn an ihre Stirn.
Für lange Zeit redete niemand ein Wort, nur Hailies leises und bitterliches Weinen erhellte die Stille. Als es irgendwann ein bisschen abebbte, neigte Joel die Lippen an ihr Ohr. »Deine Mutter macht sich fürchterliche Sorgen«, flüsterte er.
Hailies Schluchzen nahm wieder zu und sie nickte.
»Da steht, dass sie dir nicht böse ist. Davor hattest du doch bestimmt Angst.«
Wieder nickte sie und schniefte.
»Die Angst brauchst du jetzt nicht mehr zu haben«, sagte er. Für eine Weile fixierte er hinter ihrem Rücken einen Punkt an der Wand, doch in Wahrheit blickte er durch diese hindurch. Er dachte an den kommenden Winter und spürte diesen zierlichen Körper in seinen Armen, der dem niemals gewachsen wäre. Er schloss die Augen, vergrub den Mund an ihrer Schulter und brachte die Wörter hervor, die ihn innerlich zu ersticken drohten. »Geh nach Hause, Hailie.«
Er zog sie so fest an sich, als wollte er mit letzter Kraft etwas halten, das längst fort war.
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Nichts war so unbezwingbar wie die Zeit. Gleichgültig, an was man sich klammern wollte, sie schritt unaufhaltsam weiter voran, machte Momente aus der Gegenwart mit einem Wimpernschlag zur
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