Dreimond - Das verlorene Rudel
haben keine Zeit mehr«, fügte er eindringlich hinzu.
Fiona sah ihn an. Erkannte, dass er ihr Angst machte.
Und dass sie ihn mochte. Ihn und die anderen.
Trotzdem.
Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und holte tief Luft. Endlich konnte sie wieder sprechen.
»Doch! Ich will euch helfen!«
Kapitel 3
Vertrauen
E s ist heiß, so heiß hier oben. Kein Fenster spendet Luft oder Licht. Nur ein paar Sonnenstrahlen zwängen sich durch das alte Holzdach. Von unten ertönen Gesänge. Das bedeutet, er ist noch in Sicherheit. Der böse Mann kommt nie, wenn sie unten singen. Er soll dem Mann gehorchen, hat Papa gesagt. Er würde ihn wieder gesund machen, hat Mama gesagt. Er hat versucht zu gehorchen, aber er versteht nicht, was krank ist an ihm. Er versteht nicht, warum sie ihn hierher gebracht haben. Er will nicht hierbleiben. Er will heim zu Mama. Sie hat geweint beim Abschied. Er will sie trösten.
Noch immer singen sie unten ihre tiefen, ernsten Chöre. Er überlegt. Bestimmt kommt der böse Mann jetzt nicht, weil er dort unten ist und singt. Der böse Mann hat ihm strengstens verboten, den Dachboden zu verlassen. Er hat ihm gehorcht, weil er Angst hat vor dem Mann. Hat hier gesessen und durch die Dachspalten zum Himmel geschaut. Hat gewartet, bis der böse Mann wiederkommt und brüllt und schreit und schimpft, dass ein Teufel in ihm sitzt. Das glaubt der böse Mann. Und Mama und Papa glauben es auch. Er aber, er glaubt dem bösen Mann kein Wort. Er glaubt vielmehr, dass der böse Mann der Teufel ist. Es ist so furchtbar heiß hier oben!
Er will nicht mehr hier bleiben! Er will nicht mehr warten! Er steht auf, läuft zur Tür, muss sich recken, um die Klinke zu erreichen. Die Tür ist nicht verschlossen! Aber sie ist groß und schwer. Er drückt sich dagegen. Nur einen Spaltbreit kann er sie aufschieben.
Nicht ein bisschen Licht scheint ihm aus der Öffnung entgegen. Egal! Er ist doch kein Feigling! Er ist ein großer Junge! Er wirft sich gegen die Tür. Einmal, zweimal, dann gibt sie nach. So überraschend, dass er durch den Türrahmen stolpert. Dann fällt er. Fällt tiefer, immer tiefer hinab ins Schwarze. Schlägt gegen die Kanten der Treppenstufen. Bis er hart auf Holzboden landet. Für einen Moment dreht sich alles. Dann spürt er die Schmerzen. Fasst an sein Knie. Spürt, dass es blutet. Hilfe suchend schaut er sich um. Doch alles um ihn ist dunkel. Viel dunkler als auf dem Dachboden.
Er kann nichts sehen.
Er ist allein.
Es tut so weh.
Er weint. Und er ruft nach Mama. Bis er hört, dass sich von unten Schritte nähern. Ach, er hofft so sehr, dass es Mama ist. Bis er begreift. Begreift, dass sie unten aufgehört haben zu singen. Begreift, dass die Schritte zu schwer sind für Mama.
Er will sich an etwas festhalten, das ihn schützen kann. Streckt seine Hände aus ins Dunkle. Doch er fasst ins Leere. Schon öffnet sich vor ihm eine Tür. Grelles, buntes Licht blendet ihn. Er blinzelt. Schemenhaft sieht er ihn. Den bösen Mann. Der erst still steht , ihn anschaut. Der auf ihn zukommt. Der etwas in der Hand hält. Seine Peitsche!
Panik erfüllt ihn. Er rutscht zurück auf seinen blutigen Knien. Er stammelt Ausreden. Bettelt um Verzeihung. Der böse Mann verzieht keine Miene, sagt, dass er ihm den Teufel schon austreiben werde. Jetzt steht der Mann über ihm, der sich verzweifelt auf den Boden presst. Der böse Mann holt aus. Er schreit.
»Lex!«
Jemand rüttelt an ihm. Der böse Mann und die düstere Kammer verschwimmen. Dann ist alles schwarz.
»Lex!«
Lex riss die Augen auf. Der Mann war verschwunden. Stattdessen stand dort über ihn gebeugt ein blasses Mädchen. Hatte sie ihn aus der Kammer geholt? Hatte sie den bösen Mann vertrieben?
Lex zog das Mädchen mit dem rechten Arm zu sich hinunter und drückte sie fest an sich. Allmählich spürte er, wie die Angst von ihm wich, sein Puls langsamer und sein Atem ruhiger wurden. Er fühlte sich wohl, bis er wieder klarer denken konnte und ihm mit einem Mal schwante, wo er war und wen er im Arm hielt.
*
Fiona, der allmählich die Luft zum Atmen fehlte, überlegte gerade, wie sie sich wohl am rücksichtsvollsten aus der unangenehm festen Umarmung lösen könnte, als Lex sie mit einem Ruck von sich stieß.
Für einen Moment starrte er sie entgeistert an, als hätte sich eine düstere Vorahnung bewahrheitet, dann holte er tief Luft. »Glaub bloß nicht, dass du meinen Zustand ausnutzen kannst, du schamlose Zwergin!«
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