Drift
richtet es auf den Jungen, der neben einem im Gras sitzt wie eine achtlos abgestellte Puppe, »da sitzt Ihr Sohn und er lebt. Wenn Sie jetzt nicht augenblicklich aufstehen, ihn an der Hand nehmen und zum Waldrand rennen, wird Ihnen nicht einmal mehr er bleiben, verstehen Sie das?« Sie starrt ihren Sohn an, der den Blick nicht von der toten Schwester abwenden kann, reagiert aber nicht. Als man ihr schon eine scheuern will, damit sie zu sich kommt, bückt sie sich zur Tochter und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie sieht einem ernst in die Augen, so dass man sie loslässt. Dann springt sie auf, packt ihren Sohn am Handgelenk und reißt ihn mit sich in Richtung Wald, mit all der Kraft und Verzweiflung, zu der nur eine Mutter imstande ist. Gut, denkt man, dreht sich um und wird umgerissen.
Man liegt auf der Wiese und sieht den Sternenhimmel, zunächst nicht sicher, ob man Sterne vor Augen hat, die im Kopf entstanden sind, oder tatsächlich in den Nachthimmel blickt. Marina hat gesehen, wie man umgekippt ist, und kriecht auf einen zu. »Es geht, ich bin am Leben«, ruft man ihr zu, weil man keinen Zweifel hat, wo einen die Kugel getroffen hat: Der Schmerz im linken Oberarm raubt einem fast die Sinne. Als Marina innehält, glaubt man zunächst, sie tue das, weil man ihr gesagt hat, man sei okay. Aber dann sieht man in ihren Augen blankes Entsetzen, folgt ihrem Blick und hört sie ein langgezogenes »Neiiiiin!« schreien. Man begreift nicht sofort, was der Aufschlag bei Nadas ohnmächtigem Körper zu |157| bedeuten hatte, bis das Bewusstsein stoßweise, wie die Räder einer anfahrenden Dampflok, aufdreht und man begreift, dass Nada soeben von einer Kugel in den Kopf getroffen wurde. »Neeeeiiiiiiiiiin!«, schreit Marina und nimmt, was von Nadas Gesicht übriggeblieben ist, in die Hände. Man übertönt sie, schreit heiser nach Marko und Josko, richtet sich mit Tränen in den Augen, die nicht nur vom Schmerz im Oberarm herrühren, auf und robbt zu Marina hin, immer noch die Namen der beiden Kameraden in den Wahnsinn aus Marinas schmerzerfülltem Klagegeheul und dem Lärm der Gewehre brüllend. Dann sind sie da, Josko und Marko, und sie brauchen keinen Bruchteil einer Sekunde, um die Situation zu überblicken: Marko schnappt sich Marina und Josko packt einen am Arm, den man ihm entgegenhält, und man läuft los, dem Waldrand entgegen, so schnell man kann, und kaum hat man sich dreißig Meter von den Leichen von Nada und dem Mädchen entfernt, schlagen die ersten Granaten ein und zerfetzen die leblosen Körper. Und dann kommen die Granateneinschläge näher und man löst sich aus Joskos Griff und rennt ohne Hilfe weiter, Marina und Marko hinterher, in den Wald hinein. »Scharf rechts«, schreit Marko und man folgt ihm, schmerzlos, vom Adrenalin betäubt, schneller, als man je im Leben gerannt ist, dann der Befehl »links« und man verschwindet tiefer und tiefer im Wald, rennt eine Viertelstunde, bis Marko stehenbleibt und sagt: »Zwei Minuten.«
»Ich will zurück«, sagt Josko, als er einem den Verband am Oberarm zuschnürt. Marko sieht ihn kühl an. »Ich auch«, sagt man. Marina braucht ein paar Sekunden, bis sie das Gesagte versteht, sie ist bei Nada, ihrer kleinen Schwester, wie sie Nada ein paar Mal genannt hat, aber als sie verstanden hat, was Josko und man selbst gerade zu Marko gesagt hat, springt sie auf und sagt: »Wir gehen, Marko.« Er blickt sie an, überlegt. »Es sind zu viele«, sagt er eindringlich. »Und ich lasse euch nicht Selbstmord begehen. Tomo, Boro und Nada sind tot. Seid vernünftig.« Aber das ändert nichts an der allgemeinen Entschlossenheit. Entschlossenheit, die auch eine Anklage |158| wegen Insubordination gelassen in Kauf nimmt. »Arschlöcher«, sagt er.
Man rennt zurück, so schnell man weggerannt ist und hört Hunde, die ihre Führer an der Leine den Hügel hinaufziehen, kehliges Bellen, frisches Blut und frische Spuren in der Nase.
Marko hat sich für die linke Flanke entschieden, wo der Wald bis auf die Hälfte des Hügels hinunterreicht. Man kauert sich neben ihm hin und hört sich seinen Plan an. »Du bleibst hier und übernimmst zunächst die Hunde«, sagt er zu einem. »Es sind vier Stück, also sieh zu, dass du sie alle erwischst. Wenn sich einer losreißt, gehört er Marina. Sobald du die Hunde hast, rennst du zehn, fünfzehn Meter weiter hinauf und nimmst dir die zweite Gruppe vor, die sich gerade auf den Weg macht.« Alle drehen sich um und schauen ins Tal zum
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