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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Umständen, in denen man im anderen Land lebt, im Land, in dem man selbst geboren und aufgewachsen ist, zwischen zwei Optionen und selbstverständlich nimmt man den melodramatischeren Weg und man setzt sich hin, eines Sonntags, und schreibt:
     
    »Sonntagsnebel, Sonntagsgrau, Sonntagsdepression.«
     
    Weiter kommt man nicht, denn die Gedanken sind schnell und längst beim Abschiedsbrief, den man Eltern, Brüdern und der Nachwelt hinterlassen will, sind bei der Organisation der Flucht und dem Zeichnen des letzten Weges, und man streicht den Brief, setzt die Unterschrift unter die alles zusammenfassenden vier Worte »Sonntag«, »Nebel«, »Grau« und »Depression« und schleicht sich durchs Treppenhaus zum Elternzimmer, wo man auf Zehenspitzen die Schlüssel zum Zweit- oder Drittwagen stiehlt und auf die Frage der Mutter, die durch die Gänge hallt und von einem wissen will, was man an diesem faulen Sonntag so tue und vorhabe, möglichst beiläufig antwortet, man wolle sich ein, zwei Stunden aufs Ohr hauen. Dann die beinahe schwarze Wildlederjacke, die man im Vorjahr aus Vaters Altkleidern geklaut hat, die schwarzen Lederhandschuhe, mit denen man Motorrad gefahren ist, bis alle um einen herum neben ihren Maschinen draufgegangen sind, und man schlüpft in seine schwarzen Lederstiefel und schwarzen Jeans und sieht mit schwarzem Rollkragenpulli, schwarzem Haar und |9| schwarzem Dreitagebart lächerlich gefährlich aus für neunzehn Jahre.
    Das Auto geräuschlos aus der Garage zu bekommen ist schwieriger, aber wie immer, wenn man wild zu etwas entschlossen ist, schafft man es und man wirft auf dem Weg hinunter, runter vom Berg, einen letzten Blick auf das Haus, in dem man so viel Schönes und Trauriges erlebt hat, und man weiß, dass alles, was einem lieb und teuer ist, in diesem Haus zurückbleibt und nicht ahnt, dass man sich zum letzten Mal gesehen hat.
     
    Man ist neunzehn Jahre alt und es ist Krieg in dem Land, das man Heimat nennen möchte, dem Land, in dem Eltern, deren Eltern und Großeltern geboren wurden, aber man kann es nicht, darf es nicht Heimat nennen, hat selbst nur den Entwurf einer Heimat, einer Heimat, die man sich aus dem Original der Eltern zurechtgehobelt und wie einen Holzpfahl ins Herz gerammt hat: Für diesen Pflock wird man in den Krieg ziehen und sich umbringen oder umbringen lassen, man hat die Gründe und das Testosteron dafür, die nötige Romantik und alle Frustration der Welt, und man fühlt genügend Verachtung für das Land, in dem man lebt, in dem sich keiner um das Schicksal der Menschen kümmert, die Tag für Tag massakriert werden im Land der Eltern; sich helfen, indem man anderen hilft.
    So einen Entschluss trifft man nicht von einem Tag auf den anderen, man muss eines Tages frustrierter und depressiver, verlorener und trauriger sein, als man es bereits über eine lange Zeit hinweg war, und man muss sich selbst mehr hassen als die Welt um einen herum und diese Heimat, die man im Herzen stecken hat, diesen Pflock aus rostigem Holz, rosarot anmalen, um sich ein Auto der Eltern zu krallen und das letzte Geld vom Schülerkonto abzuheben, mit einem Viertel davon Haschisch zu kaufen und sich anschließend in Richtung Süden aufzumachen, in den Krieg.
    Bis zum Grenzpass ist jegliche selbstmörderisch-selbstaufopfernde Romantik reiner Verzweiflung gewichen und aus eingebildetem |10| Heldentum der Wunsch geworden, sich selbst die Lichter auszublasen. Aber man hat weder eine Pistole noch ein Gewehr, also legt man sich in den Schnee, schließlich ist man in den Bergen, und das mitten im Winter.
    So leicht erfriert sich’s nicht, es tut sehr schnell weh und man hat gekifft und nicht genügend getrunken, um sich bewusstlos hinzulegen und darauf zu warten, dass das Kalte ins Warme geht und das Leben aus dem Körper schwindet; nein, so geht das leider nicht. Also übernachtet man im Wagen, friert sich den Hintern ab und verflucht sich für die Schnaps- beziehungsweise Bieridee.
    Am nächsten Morgen fährt man schleunigst weiter, weil man allzu deutlich vor Augen hat, wohin man zurückkehren müsste, sollte man umkehren, allein der Gedanke daran: lügen darüber, wo man die Nacht verbracht hat, sich winden wie ein Wurm. Warum hat man das Auto genommen, ohne zu fragen, und was war das für ein Zettel? Der Gedanke daran, zurück in die Schule zu gehen und dieselben Schwachköpfe wiederzusehen, monatelang noch, nein, dann doch lieber die ungewisse Zukunft, die südöstlich vor einem liegt, nur

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