Drift
jetzt. Er schaffte es nicht einmal, ihr in die Augen sehen.
»Na los, du Schwächling«, zischte sie. »Sag schon! Wer oder was war dieses Mal schuld? Wer hat dich verführt, weshalb konntest du nicht nein sagen? Was war der Grund dafür, dass du dein Versprechen schon wieder gebrochen hast und stinkend wie ein Fass Whisky um sechs Uhr morgens nach Hause kommst?«
|154| Er wusste nicht, woher die Energie kam, aber wie auf Knopfdruck gingen sämtliche Pferde mit ihm durch und Martin sprang auf und schrie die ganzen Albträume der letzten Nacht und all seine Ängste und seinen Frust aus sich heraus.
»Nein!«, schrie er. »Nein, nein, und verdammt noch mal, nein!«
Helena erstarrte.
»Genug von deiner Scheiße!«, schrie er. »Ja, ich hab gesoffen und miserabel geschlafen und von Krieg und Toten geträumt und gleichzeitig den absoluten Horror vor diesem Morgen gehabt, an dem du mich mit deinen Fragen malträtieren wirst, bis mir das Kotzen kommt! Ich hab gearbeitet, ja, gearbeitet hab ich, an einem Projekt, an einem Buch, an etwas, das mir nicht nur Spaß macht, sondern das ein Erfolg sein wird, mit dem ich die Miete werde bezahlen können, entweder für diese Wohnung oder eine andere – oder, wenn du willst, für meine eigene!«
Helena nickte. »Für deine eigene Wohnung. Soso. Verstehe. Du bist also wieder drauf.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu Boden.
»Du weißt«, sagte sie ruhig und kühl, »was ich dir gesagt habe. Du weißt, dass ich das nicht mehr mitmache, nicht einen Tag länger. Pack dein Zeug und hau ab.«
»Helena! Ich hab …«
»Pack dein Zeug und hau ab.«
»Sag mal, spinnst du? Das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Oh doch. Du gehst. Jetzt, sofort. Wenn ich von der Arbeit komme, bist du weg. Sonst hole ich die Polizei. So einfach. Und du weißt, ich werde es tun. Und lass den Hund in Ruhe, ich mache die Morgenrunde.«
Sie ließ ihn stehen und verschwand in Richtung Schlafzimmer.
»Und ich wünsch dir noch einen schönen Tag«, sagte sie im Gang, als wäre es ein Tag wie jeder andere.
|155| FLUCHT
Man hat noch nicht einmal den Waldrand erreicht, zu dem man sich, hinter Marko her und ohne Umweg über den Hügel, hinaufgekämpft hat, die kleine Gruppe Frauen mit dem Jungen direkt hinter Marko, man selbst und Josko mit Nada auf der Trage das Schlusslicht, als man schon die Stimmen der anrückenden serbischen Truppen hört: geschriene Befehle, Flüche, vereinzelt Schüsse, bislang in die falsche Richtung.
Marko überlässt Marina die Führung und bleibt stehen, bis man auf seiner Höhe ist. Er sieht einem kurz in die Augen, dann geht er neben der Bahre her, seinen Blick auf die ohnmächtige Nada gerichtet.
»Sie werden uns gleich entdecken«, sagt er. »Und ich kann die Sicherheit der Frauen nicht riskieren.« – »Wir können Nada nicht zurücklassen«, sagt Josko und man sieht nur einen Ausweg und sagt, man werde zurückbleiben und sie so lange beschäftigen, wie irgend möglich. »Nein«, sagt Marko, ohne Begründung. Man will gerade den Mund aufmachen, um ihm zu widersprechen, als die ersten Kugeln an einem vorbeipfeifen und das Rattern der Maschinengewehre vom Bauernhof herauftönt. »Scheiße!«, flucht man und beginnt, von Josko mit der Bahre bergauf gestoßen, zu rennen. Marko ist stehengeblieben und schießt zurück, und man fragt sich, weshalb auch Marinas Gruppe stehenbleibt, bis man die Mutter schreien hört. Marina zerrt an ihrem Arm und hält gleichzeitig den Kleinen unten; die Tochter liegt regungslos am Boden.
Man hält neben ihr an, legt die Bahre ab, Josko dreht sich um und feuert in Richtung Bauernhaus auf die Feinde, während man selbst den Jungen packt und ihm befiehlt, in den Wald zu rennen, der noch gut hundert Meter entfernt vor einem liegt. Aber anstatt einem zuzuhören, starrt er nur auf die Leiche seiner Schwester und auf die Mutter, die sich auf sie geworfen hat und ununterbrochen |156| »Nein, nein, nein!« schreit und sich jedem Versuch von Marina, sie von der toten Tochter wegzuzerren, mit aller Kraft entgegensetzt. »Hilf Josko«, sagt man zu Marina, als man realisiert, dass der Junge keinen Schritt tun wird, solange die Mutter nicht mitmacht. Marina sieht einen kurz an, nickt, lässt die Frau los und wirft sich neben Josko ins Gras und beginnt zu feuern. Man packt die Frau brutal am Handgelenk.
»Ihr Mann ist tot und Ihre Tochter auch«, schreit man sie durchs Gebell der Gewehre an. »Aber da«, sagt man, packt ihr Gesicht und
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