Drift
war.
Martin sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier, was hieß, er konnte in aller Ruhe einkaufen und sich noch ein wenig entspannen, bevor er mit dem Kochen anfing.
Bei all der Freizeit, über die Martin jetzt verfügte, war Zeitmanagement kein so großes Thema mehr. Nur eines war wichtig: Das Essen musste zur verabredeten Zeit auf dem Tisch stehen. In diesem Punkt war Helena, man könnte sagen: pingelig. Als er sich an die Szene erinnerte, die sie ihm vor kurzem gemacht hatte, schüttelte Martin lächelnd den Kopf.
Er war seit über einer Stunde in der Küche am Rumhantieren gewesen, als Helena nach Hause kam. Sie betrat die Küche und Martin wollte ihr einen Kuss auf die Lippen und ein Glas Wein in die Hand drücken, als sie, wie vom Blitz getroffen, einen halben Meter vor ihm stehenblieb und ungläubig auf die Töpfe auf dem Herd starrte.
Martin folgte ihrem Blick und sah neben der vollen Salatschüssel den kleinen Topf, in dem die fertige, pikante Tonnosauce auf kleinster Flamme vor sich hinbrodelte, und gleich daneben den zweiten, großen, mit dem Wasser kurz vor dem Siedepunkt, auf dem Herd stehen. Mit zwei Gläsern Wein in den Händen stand er ratlos zwischen ihr und dem Essen und verstand nicht. Er wollte gerade den Mund aufmachen, um zu fragen, nach der Richtung, dem Bogen, einem Hinweis, irgendeiner Erklärung dafür, was los war, als sie schnellen Schrittes an ihm vorbeiging, die offene Packung Spaghetti nahm, die er bereitgestellt hatte, um sie in ein, zwei Minuten ins Wasser zu geben, weit ausholte und Martin die Spaghetti mit einer Wucht an den Kopf warf, dass die Packung förmlich explodierte |21| und die Teigwaren durch die ganze Küche flogen. Einen Moment lang standen sich beide still gegenüber.
Was zum Teufel …?! Martin schüttelte die Spaghetti aus dem Haar, aber noch bevor er etwas sagen konnte, legte Helena los.
»Was bist du für ein Mann?!«, bellte sie ihn an, kurz davor, ihm nach der Spaghetti-Attacke auch noch eine zu scheuern.
Martin war, gelinde gesagt, überrascht. Und ihm war nicht im Ansatz klar, worin das Problem lag. Er schloss die Augen, holte tief Luft und begann leise:
»Helena – was, um Himmels willen …?«
Aber Helena unterbrach ihn. Sie schlug ihm die Faust gegen das Brustbein, stampfte mit ihren teuren Stiefeln auf den Boden, dass das ganze Haus erzitterte, und tobte weiter: »Um Himmels willen?!«
»Ja!«, versuchte Martin es erneut. »Was ist in dich gefahren? Spinnst du? Und außerdem: Das hat grad wehgetan!«
Sie warf ihre Tasche aufs Sofa (nur eine ihrer Extravaganzen: wer hat schon ein Corbusiersofa in der Küche stehen, mal ehrlich) und stemmte die Hände in die Hüften. Mit all der Bosheit und all dem Gift, das sie in ihre schönen, großen, braunen Augen zu zaubern imstande war, blitzte sie ihn an.
»Ich will dir sagen, was in mich gefahren ist … Du hockst den ganzen Tag faul herum … Nein, entschuldige, stimmt nicht, du arbeitest … Du machst da etwas, Kunst, nicht wahr, Schreiben. Aber weißt du was?«
»Was?«, wurde Martin laut, darauf wollte er wirklich eine Antwort hören.
»Aus deiner Schreiberei wird nie und nimmer was, und warum, das sehen wir anhand dieses kleinen, wunderprächtigen Beispiels, denn das einzige, worum ich dich gebeten habe, ist, dass wir etwas Warmes zu essen haben, wenn ich kaputt von der Arbeit komme, aber nein, das bringst du nicht fertig, ist ja auch zu viel verlangt. Richtig?! Na sag schon! Ist das zu viel verlangt?«
|22| Martin versuchte, seine in alle Winde verwehten Gedanken zu bündeln, aber es gelang ihm nicht; es war wie Mückenfangen in einem Astronautenanzug auf dem Mond – Mondmückenfangen. Hm. Das würde er irgendwo unterbringen.
Helena katapultierte ihn vom »Projekt Julien« zurück auf die Erde. Sie holte tief Luft und schrie ihn an: »Ist-das-et-wa-zu-viel-ver-langt?!«
Martin stand, mit zwei Gläsern Wein in den Händen und einem Rest Spaghetti in den Haaren, zur Salzsäule erstarrt vor ihr, brachte den Mund weder mechanisch auf, noch war er imstande, ihr irgendetwas Kohärentes, Zusammenhängendes entgegenzusetzen, es fühlte sich an, als stünde er einen Meter neben sich und wartete fasziniert darauf, was Helena als nächstes sagen, was sie als nächstes tun würde.
»Ich füttere dich durch«, tobte sie, »lasse dir alle nur erdenklichen Freiheiten, du gehst aus, mitten in der Nacht, kommst völlig zugeknallt morgens um sieben nach Hause und ich vögel auch noch mit dir, weil du’s
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