Dringernder Verdacht
erste Karton geradezu musterhaft. Meine erste Aufgabe war es
wohl, herauszufinden, was Morley Shine an Unterlagen zu Hause aufbewahrt hatte.
Ehe ich losfuhr, erledigte ich noch ein paar organisatorische Telefonate. Ich
hatte ein ziemlich klares Gefühl dafür, mit wem ich reden wollte, also galt es
vor allem, ein paar Termine zu vereinbaren. Ich erreichte Isabelles Schwester
Simone, die sich bereit erklärte, mich um die Mittagszeit bei sich zu Hause zu
empfangen. Außerdem sprach ich kurz mit einer gewissen Yolanda Weidmann, der
Frau von Isabelles früherem Chef. Mr. Weidmann sei da, habe aber zu tun und
werde noch bis drei beschäftigt sein. Deshalb schlug sie vor, ich solle doch am
späteren Nachmittag vorbeikommen. Die dritte Person, bei der ich anrief, war
Isabelles langjährige beste Freundin, Rhe Parsons. Sie war nicht zu Hause, aber
ich hinterließ auf ihrem Anrufbeantworter meinen Namen und meine Nummer und die
Ankündigung, dass ich es wieder versuchen würde.
3
Da das Polizeirevier nur ein paar
Häuser weiter lag, beschloss ich, mit Lieutenant Dolan von der Mordkommission
anzufangen. Er lag mit Magen-Darm-Grippe zu Hause, aber Sergeant Cordero war
da. Ich entdeckte Lieutenant Becker in einer Ecke, ganz mit einem Mann
beschäftigt, den ich für einen Verdächtigen hielt, ein Weißer in den
Zwanzigern, offenbar mürrisch und unkooperativ. Becker kannte ich besser als
Cordero, aber wenn ich wartete, bis er frei war, würde er mich über meine
Beziehung zu Jonah Robb von der Vermisstenabteilung ausquetschen. Ich hatte
Jonah seit sechs oder acht Monaten nicht mehr gesehen und wollte im Moment
keinen Kontakt herstellen.
Sheri Cordero war in dieser Abteilung
eine Art Kalb mit zwei Köpfen. Als Frau und Hispano-Amerikanerin schaffte sie
es, gleich zwei Minderheiten anzugehören. Sie war neunundzwanzig, klein, drall,
gescheit, hart im Nehmen und schroff auf eine Art, die ich nicht recht definieren
konnte. Sie wurde nie wirklich bissig, aber ihre männlichen Kollegen fühlten
sich in ihrer Gegenwart immer ein bisschen ungemütlich. Ich verstand ihre
Situation. Die Polizei von Santa Teresa ist schon besser als der Durchschnitt,
aber es ist nicht leicht, Frau und gleichzeitig Cop zu sein. Kein Wunder, wenn
es Sheri ein bisschen an Humor fehlte. Sie war gerade mitten in einem
Telefongespräch, das sie auf Spanisch weiterführte, als ich hereinkam. Ich ließ
mich auf dem Chrom-Kunstlederstuhl neben ihrem Schreibtisch nieder. Sie reckte
einen Finger in die Höhe, um mir anzudeuten, dass sie gleich Zeit für mich
haben werde. Auf ihrem Schreibtisch stand ein kleiner künstlicher
Weihnachtsbaum. Er war mit kleinen Zucker-Spazierstöcken behängt, und ich nahm
mir einen. Bei jemandem zu sitzen, der gerade telefoniert, hat den Vorteil,
dass man die betreffende Person in aller Ruhe beobachten kann, ohne unhöflich
zu erscheinen. Ich wickelte das Spazierstöckchen aus und warf das Zellophan in
den Papierkorb. Sheri war offensichtlich ganz bei der Sache und gestikulierte
heftig, um ihre Worte zu unterstreichen. Sie hatte ein nettes, eher
unscheinbares Gesicht und war kaum geschminkt. An einem Schneidezahn fehlte
eine Ecke, was ihrer ansonsten eher strengen Miene eine lustige Note verlieh.
Während ich sie ansah, begann sie, auf einem Notizblock herumzukrakeln — einen
Cowboy mit einem Cartoon-Messer in der Brust.
Sie beendete ihr Telefonat und wandte
sich ohne sichtbares Umschalten mir zu. »Ja?«
»Ich wollte zu Lieutenant Dolan, aber
Emerald sagt, er sei krank.«
»Er hat dieses verflixte Virus, das zur
Zeit umgeht. Haben Sie’s schon gehabt? Ich war eine ganze Woche außer Gefecht.
Die reinste Pest.«
»Bisher bin ich noch verschont
geblieben«, sagte ich. »Wie lange ist er schon krank?«
»Erst zwei Tage. Er wird zurückkommen
und aussehen wie der leibhaftige Tod. Kann ich irgendwas für Sie tun?«
»Wahrscheinlich schon. Ich ermittle für
Lonnie Kingman in einer Erbsache. David Barney ist der Beklagte. Ich wollte mal
hören, was damals so hinter den Kulissen geredet wurde. Waren Sie da schon
hier?«
»Ich war damals noch in der
Einsatzzentrale, aber ich habe es mitgekriegt. Mann, die waren ganz schön
sauer, als er davonkam. Sah ganz danach aus, dass er’s war, aber sie konnten
die Geschworenen nicht rumkriegen. Frust ist gar kein Ausdruck. Lieutenant
Dolan war so wütend, dass er Nägel hätte zerbeißen können.«
»Wie ich höre, soll David Barneys
damaliger Zellengenosse behaupten, Barney
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