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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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habe ihm gleich nach der
Urteilsverkündung die Sache so gut wie gestanden.«
    »Sie meinen Curtis McIntyre. Der sitzt
im Bezirksgefängnis, und wenn Sie mit ihm reden wollen, tun Sie’s besser
schnell. Er kommt diese Woche raus, weil er seine neunzig Tage wegen
Körperverletzung abgesessen hat«, sagte sie. »Wissen Sie schon von Morley
Shine?«
    »Lonnie hat es mir gestern Abend
gesagt, aber nur kurz. Wie ist es denn passiert?«
    »Nach dem, was ich gehört habe, ist er
einfach tot umgekippt. Er hatte wohl im Bett gelegen, auch mit diesem
verdammten Infekt, aber er fühlte sich offenbar besser. Er hatte gerade zu
Abend gegessen. Sie kennen ja Morley. Eine Mahlzeit auszulassen war für ihn das
Schlimmste. Er ist vom Tisch aufgestanden und tot umgefallen.«
    »Hatte er denn Herzbeschwerden?«
    »Schon seit Jahren, aber er hat sie nie
ernst genommen. Ich meine, er war zwar in Behandlung, aber es schien ihn
ziemlich kalt zu lassen. Er hat immer nur Witze darüber gemacht.«
    »Wirklich traurig«, sagte ich. »Er wird
mir fehlen.«
    »Mir auch. Wundert mich selbst, wie
sehr mir das zusetzt. Bei der Dienstbesprechung hat mir jemand gesagt, Morley
Shine ist gestorben. Ich bin in Tränen ausgebrochen. Hat mich selbst
überrascht. Wir standen uns nicht besonders nah. Wir haben uns drüben im
Gericht immer miteinander unterhalten, wenn ich darauf gewartet habe, in
irgendeiner Sache als Zeugin aufgerufen zu werden. Er war ja immer dort und hat
eine Camel nach der anderen geraucht und Fritos gemampft oder irgendwas aus dem
Automaten. Macht mich ganz krank, dass die alten Knaben alle plötzlich tot
umfallen. Wieso hat er nicht besser auf sich aufgepasst?«
    Ihr Telefon klingelte, und gleich
darauf war sie schon wieder völlig von ihrem Gespräch absorbiert. Ich winkte
ihr kurz zu und verließ ihren Schreibtisch. Sie hatte mir im Wesentlichen
gesagt, was ich wissen wollte. Die Cops waren von David Barneys Schuld
überzeugt. Das war zwar kein Beweis, aber immerhin ein weiteres Stück
Meinungsbild.
    Ich ging noch eben beim Archiv vorbei
und fragte Emerald, ob ich mal telefonieren könne. Ich rief Ida Ruth an und bat
sie, mir für den späteren Vormittag einen Besuchstermin bei Curtis McIntyre im
Gefängnis zu organisieren. Normalerweise ist dort nur am Sonntagnachmittag von
eins bis drei Besuchszeit, aber da ich in Lonnie Kingmans Auftrag stand, konnte
ich jederzeit mit ihm reden. Ach ja, die Vorteile der offiziellen Mission. Ich
hatte so viele Jahre damit zugebracht, mich in den Büschen herumzudrücken, dass
ich mich kaum daran gewöhnen konnte.
    Nachdem das geregelt war, fragte ich
sie nach Morleys Privatadresse. Morley hatte in Colgate gewohnt, das im Norden
an Santa Teresa grenzt. Colgate besteht hauptsächlich aus »Leicht«-Industrie
und Neubau-Siedlungen, mit diversen Geschäften entlang der Hauptstraße. Wo es
früher nichts als Ackerland und Zitrushaine gegeben hatte, waren inzwischen Tankstellen,
Bowling-Hallen, Bestattungsinstitute, Drive-in-Kinos, Motels,
Schnellrestaurants, Teppichboden- und Supermärkte aus dem Boden gestampft
worden, ohne erkennbare Rücksicht auf Ästhetik oder ein städtebauliches
Konzept.
    Morley und seine Frau Dorothy besaßen
ein bescheidenes Häuschen in einer der ältesten Siedlungen zwischen dem South
Peterson Highway und den Bergen. Ich vermutete, dass es in den fünfziger Jahren
erbaut worden war, noch ehe die Baufirmen die Tricks individueller
Außengestaltung entdeckten. Hier war das Holzwerk im Schweizer Chalet-Stil
entweder schmutzig braun oder blau gestrichen, und die Doppelgaragen ragten
vorn heraus und dominierten den Zugang. Die Fenster hatten Holzläden, passend
zu den hölzernen Blumenkästen mit Hänge-Stiefmütter-chen, die sich bei näherem
Hinsehen allesamt als künstlich entpuppten. Die ganze Nachbarschaft schien auf
dem absteigenden Ast, von den unkrautfleckigen Rasenstücken bis zu den rissigen
Einfahrten, wo auf jedem zweiten Grundstück ein aufgebocktes Auto stand. Die
Weihnachtsdekorationen machten es irgendwie nur noch schlimmer. Die meisten
Häuser waren mit bunten Lichterketten geschmückt. Einer der Morleyschen
Nachbarn schien mit dem Haus gegenüber in heftiger Konkurrenz zu stehen. In
beiden Gärten war jedes verfügbare Fleckchen mit einschlägigem Zierrat
bestückt, von Plastik-Weihnachtsmännern bis hin zu Plastik-Drei-Königen.
    Es war Dienstagmorgen. Morley war
Sonntagabend gestorben, und obwohl ich Hemmungen hatte, in dieser Situation zu
stören, schien es

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