Drucke Zu Lebzeiten
Aber immer ging er mit großer Eile an mir vorüber, mit abgewendetem Ge- sichte. Vielleicht lag es daran, daß ich mir ihn immer nur in Bewegung denken konnte, so daß es mir, selbst wenn er stand, schien, als schleiche er.
Einmal verspätete ich mich in meinem Zimmer. Trotz- dem ging ich noch in die Kirche. Ich fand das Mädchen nicht mehr dort und wollte nach Hause gehn. Da lag dort wieder dieser junge Mensch. Die alte Begebenheit fiel mir jetzt ein und machte mich neugierig.
Auf den Fußspitzen glitt ich zum Türgang, gab dem blinden Bettler, der dort saß, eine Münze und drückte mich neben ihn hinter den geöffneten Türflügel; dort saß ich eine Stunde lang und machte vielleicht ein listi- ges Gesicht. Ich fühlte mich dort wohl und beschloß öfters herzukommen. In der zweiten Stunde fand ich es unsinnig hier wegen des Beters zu sitzen. Und dennoch ließ ich noch eine dritte Stunde schon zornig die Spin- nen über meine Kleider kriechen, während die letzten Menschen lautatmend aus dem Dunkel der Kirche traten.
Da kam er auch. Er ging vorsichtig und seine Füße betasteten zuerst leichthin den Boden, ehe sie auftraten.
Ich stand auf, machte einen großen und geraden Schritt und ergriff den jungen Menschen. „Guten Abend", sagte ich und stieß ihn, meine Hand an seinem Kragen, die Stufen hinunter auf den beleuchteten Platz.
Als wir unten waren, sagte er mit einer völlig unbefe- stigten Stimme: „Guten Abend, lieber, lieber Herr, zur- nen Sie mir nicht, Ihrem höchst ergebenen Diener."
„Ja", sagte ich, „ich will Sie einiges fragen, mein Herr; voriges Mal entkamen Sie mir, das wird Ihnen heute kaum gelingen."
„Sie sind mitleidig, mein Herr, und Sie werden mich nach Hause gehen lassen. Ich bin bedauernswert, das ist die Wahrheit."
„Nein", schrie ich in den Lärm der vorüberfahrenden Straßenbahn, „ich lasse Sie nicht. Gerade solche Ge- schichten gefallen mir. Sie sind ein Glücksfang. Ich be- glückwünsche mich."
Da sagte er: „Ach Gott, Sie haben ein lebhaftes Herz und einen Kopf aus einem Block. Sie nennen mich einen Glücksfang, wie glücklich müssen Sie sein! Denn mein Unglück ist ein schwankendes Unglück, ein auf einer dünnen Spitze schwankendes Unglück und berührt man es, so fällt es auf den Frager. Gute Nacht, mein Herr."
„Gut", sagte ich und hielt seine rechte Hand fest, „wenn Sie mir nicht antworten werden, werde ich hier auf der Gasse zu rufen anfangen. Und alle Ladenmäd- chen, die jetzt aus den Geschäften kommen und alle ihre Liebhaber, die sich auf sie freuen, werden zusammenlau- fen, denn sie werden glauben, ein Droschkenpferd sei gestürzt oder etwas dergleichen sei geschehen. Dann werde ich Sie den Leuten zeigen."
Da küßte er weinend abwechselnd meine beiden Hän- de. „Ich werde Ihnen sagen, was Sie wissen wollen, aber bitte, gehen wir lieber in die Seitengasse drüben." Ich nickte und wir gingen hin.
Aber er begnügte sich nicht mit dem Dunkel der Gas- se, in der nur weit voneinander gelbe Laternen waren, sondern er führte mich in den niedrigen Flurgang eines alten Hauses unter ein Lämpchen, das vor der Holztrep- pe tropfend hing.
Dort nahm er wichtig sein Taschentuch und sagte, es auf eine Stufe breitend: „Setzt Euch doch lieber Herr, da könnt Ihr besser fragen, ich bleibe stehen, da kann ich besser antworten. Quält mich aber nicht."
Da setzte ich mich und sagte, indem ich mit schmalen Augen zu ihm aufblickte: „Ihr seid ein gelungener Toll- häusler, das seid Ihr! Wie benehmt Ihr Euch doch in der Kirche! Wie ärgerlich ist das und wie unangenehm den Zuschauern! Wie kann man andächtig sein, wenn man Euch anschauen muß."
Er hatte seinen Körper an die Mauer gepreßt, nur den Kopf bewegte er frei in der Luft. „Ärgert Euch nicht – warum sollt Ihr Euch ärgern über Sachen, die Euch nicht angehören. Ich ärgere mich, wenn ich mich ungeschickt benehme; benimmt sich aber nur ein anderer schlecht, dann freue ich mich. Also ärgert Euch nicht, wenn ich sage, daß es der Zweck meines Lebens ist, von den Leu- ten angeschaut zu werden."
„Was sagt Ihr da", rief ich viel zu laut für den niedri- gen Gang, aber ich fürchtete mich dann, die Stimme zu schwächen, „wirklich was sagtet Ihr da. Ja ich ahne schon, ja ich ahnte es schon, seit ich Euch zum erstenmal sah, in welchem Zustande Ihr seid. Ich habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint,
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