Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
PROLOG
D amals.
Tief stand die Mittsommersonne am Horizont. Ihr glutrotes Licht fiel beinahe waagerecht durch das dichte Blattwerk der Bäume. Düstere Schatten erfüllten den Wald. Irgendwo im dichten Unterholz schienen namenlose Kreaturen umherzuhuschen.
Ob gut oder böse, vermochten die drei Mädchen nicht zu sagen.
Um sie herum knackte und knisterte es. Geräusche, die von überall und nirgends zu kommen schienen. Die drückende Schwüle machte das Atmen schwer und kündigte ein Gewitter an, das sich über dem Tal zusammenbraute.
Hanna, Finja und Linnea hielten sich an den Händen. Die drei Freundinnen fühlten sich unbehaglich. Am liebsten wären sie sofort zum Festplatz zurückgekehrt, wo die anderen Bewohner von Dvägersdal im Schein der Fackeln um die
Majstången
tanzten. Doch keine von ihnen wollte die Erste sein, die ihre Furcht eingestand.
Also gingen sie weiter. Immer tiefer und tiefer in den Wald hinein.
Hanna zuckte erschrocken zusammen, als sie plötzlich in der Ferne Donner grollen hörte. Es war ihre Idee gewesen, heute Nacht in den Wald zu gehen. Sie hatte in der Schulbibliothek ein vergilbtes, muffig riechendes Buch mit alten Sagen gefunden. Darin stand, dass die mystischen Kräfte der Natur in der Nacht der Sommersonnenwende besonders stark waren.
Wenn es einen Zeitpunkt gab, an dem man Geister, Kobolde, Elfen und Feen entdecken konnte, dann am
Midsommarafton
. Hanna hatte sich diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen wollen und Finja und Linnea überredet, sie zu begleiten. Eine Entscheidung, die sie alle drei inzwischen bereuten.
Vor allem angesichts des
Trollfjällens
, der jetzt vor ihnen zwischen den Wipfeln der Bäume auftauchte.
Der Himmel über dem Tal hatte eine düstere, schwarzgraue Färbung angenommen, und die Wolken hingen so tief, dass der riesige nachtschwarze Felsen sie beinahe zu berühren schien.
Hanna schauderte.
Der
Trollfjällen
war definitiv unheimlich. Selbst an sonnigen Tagen wirkte er finster und bedrohlich. Sein tiefschwarzes Gestein schien das Licht in der unmittelbaren Umgebung einfach aufzusaugen.
“Vielleicht sollten wir doch langsam umkehren”, krächzte Linnea heiser, als erneut Donner grollte – dieses Mal sehr viel näher als zuvor. Normalerweise war sie die vernünftigste und bodenständigste der drei Freundinnen. Sie glaubte nicht an Geister- und Spukgestalten und fürchtete sich auch nicht vor Gewittern.
Heute Nacht jedoch …
“Linnea hat recht”, sagte nun auch Finja. “Lasst uns zurückgehen, ehe der Sturm losbricht. Wir …” Sie schrie erschrocken auf, als plötzlich eine Gestalt vor ihr aus dem Unterholz auftauchte. “
Förbannat!”
, fluchte sie, als sie erkannte, um wen es sich handelte. “Was willst du hier, Audrey? Bist du uns etwa gefolgt?”
Audrey, das siebzehnjährige englische Au-pair-Mädchen ihrer Familie, lächelte boshaft. “Und wenn? Was willst du dagegen tun? Ich wette, deine Eltern wissen nichts von eurem kleinen Ausflug, stimmt’s? Was meinst du, wie werden sie wohl reagieren, wenn ich ihnen davon erzähle?”
Finja war wütend und beunruhigt zugleich. Sie wusste, ihr Vater würde furchtbar böse werden, wenn er erfuhr, dass sie sich mit Hanna und Linnea heimlich im Wald herumtrieb. Und ihr war ebenfalls klar, dass Audrey keine Sekunde zögern würde, ihr kleines Geheimnis zu verraten. Es wäre nicht das erste Mal …
“Aber keine Sorge, ich werde niemandem etwas sagen”, sprach Audrey weiter. “Trotzdem solltet ihr euch hier draußen besser nicht allein aufhalten. Habt ihr denn noch nie vom Felsentroll gehört?”
Hanna starrte sie aus großen Augen an. “Dem Felsentroll? Was ist das?”
Kurz darauf saßen Hanna, Finja und Linnea auf einem kleinen Felsvorsprung und lauschten den Worten des sechs Jahre älteren Mädchens, das geheimnisvoll die Stimme senkte: “Der Felsentroll ist ein grausames und schreckliches Wesen, zerfressen von Neid, Habgier und Hass. Einst war er ein Mensch wie wir, doch dann traf ihn zur Strafe für schlimme Taten ein Fluch, der ihn dazu verdammte, auf ewig im kalten Stein des
Trollfjällen
zu leben. Mit den Jahren wurde die Boshaftigkeit des Felsentrolls immer größer und größer. Er hasst alle Menschen, weil sie in Freiheit leben und nicht in Kälte und Dunkelheit gefangen sind, so wie er.”
Ein erneuter Donnerschlag erklang, nun fast direkt über ihnen, und heftiger Sturmwind kam auf. Er zerrte an den Ästen der Bäume und ließ die Haare der Mädchen wild
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