Drüberleben
Arbeit, wir trinken Rotwein in gesunden Mengen, er sagt den Kindern Gute Nacht, weil er eine gesunde Work-Life-Balance pflegt und ihm so etwas wichtig ist, und danach haben wir schmutzigen Sex auf dem Wohnzimmerteppich, weil so ein bisschen Ausbrechen aus dem Alltag ja auch mal gesund ist. Alles wäre so verdammt gesund. Gesunde Menschen mit gesunden Köpfen und gesunden Gedanken. Wir wären so gesund vor Glück, so gesund und glücklich, so gesund ohne Grund, dass wir nie auch nur eine Minute darüber nachdenken würden, dass Mama mal in einer U-Bahn saß und sich das alles nur vorgestellt hat und dass Mama eigentlich eine kranke Irre ist, die die meiste Zeit nur kranke Scheiße im Kopf hatte, weil das alles so schön lange her ist, dass wir alle gar nicht daran denken müssten, außer Mama, die weiß, ganz tief drinnen, dass sie eigentlich ein kleiner Zombie ist, der sich nur ein Menschenkostüm angezogen hat und Kinder bekommen hat und jetzt endlich glücklich ist, in dieser riesigen Wohnung in einem hübschen Stadtteil mit hübscher Aussicht und hübschen Menschen.
Es ist der letzte Augenblick, in dem ich noch umkehren könnte. Es ist der letzte Augenblick, der die Möglichkeit zur Flucht noch bereithält, der mir die Wahl zwischen Flucht oder Bleiben lässt. Es ist der letzte Moment einer Autonomie, die ich mit dem Schließen der Türen abgeben werde, die ich verlieren werde, nach der ich lauthals schreien werde, wenn ich sie erst einmal so bereitwillig verschenkt habe.
Ich könnte jetzt einfach nach Hause in eine hoffentlich wieder leere Wohnung fahren, könnte die Weinflaschen wegbringen, mal wieder lüften, mal wieder aufräumen, mal wieder Rechnungen bezahlen, mal wieder ans Telefon gehen, mal wieder duschen, mal wieder Sport machen, mal wieder arbeiten, mal wieder aufhören, so verdammt durchzudrehen. Ich könnte jetzt einfach nach Hause fahren und es selbst hinkriegen. Ich könnte mich einfach zusammenreißen, mich selbst nicht so ernst nehmen, nicht immer so schrecklich verzweifelt sein, nicht immer gleich alles so dramatisieren, ich könnte ein paar Tabletten nehmen, ich könnte mal wieder mehr lesen und den Fernseher, den Fernseher wollte ich ja auch endlich mal entsorgen, ich könnte Freunde anrufen, die bestimmt schon gar nicht mehr glauben, dass ich noch lebe, ich könnte aufhören, Musik von Selbstmördern zu hören, ich könnte aufhören, Bücher von Selbstmördern zu lesen, ich könnte aufhören, mir Reportagen über Selbstmord anzusehen, ich könnte aufhören mit dem Schnaps und mit dem Rauchen, und ich könnte mich einfach mal ein bisschen am eigenen Schopf aus dem Dreck ziehen, die Lungen mit viel mehr richtiger Luft und mit viel weniger heißer Luft und mit viel weniger kaltem Rauch füllen, ich könnte die Vorhänge aufziehen und Rohkostsalate essen und meditieren, zweimal täglich, und etwas gegen die Angst nehmen und für das Vergessen und für das Ertragen und gegen das Nicht-Aushalten-Können, und ich könnte weinen, bis nichts mehr übrig ist von dem ganzen Dreck, ich könnte mir die Augen aus dem Kopf weinen, bis ich wieder richtig sehen kann, ich könnte mir die schmutzigen Gedanken mit den ganzen Tränen einfach abwaschen, und dann könnte ich mir weiße Westen anziehen und mal wieder tanzen gehen, und ich könnte spazieren gehen und Kalorien zählen und abnehmen, und ich könnte glücklich werden und mich verlieben und alles alleine schaffen, und ich könnte, wenn ich wollte, ich könnte das alles einfach machen, ich könnte, wenn ich müsste, wenn ich ginge, dann würde ich, ich würde, ich würde…
Ich würde nach Hause gehen und mich betrinken. Ich würde überhaupt nichts machen. Ich würde ein paar Tabletten nehmen und hoffen, dass ich vergesse, dass ich ich bin, dass das mein Körper, mein Leben, dass diese ganze klägliche Scheiße mein Verdienst ist und dass sich daran niemals etwas ändern wird. Ich atme aus, und ich atme ein, und ich lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen und lasse mich fallen, lasse mich fallen in diese Möglichkeit, in diesen letzten ersten Tag, in dieses Boot, in dem ich nun sitze und das auf einem Ozean voll Angst und Irrsinn und Scheiße und stinkendem Dreck schwimmt, dieses Boot, das Klinik heißt und dessen Insasse ich gleich bin.
Drei
D as Gebäude ist ein grauer Block aus Beton, Stein und Stahl. Er liegt am Rande des Krankenhausgeländes, das nicht viel mehr als fünf solcher Blöcke, die kreisförmig errichtet wurden, umfasst. Jeder
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