Drüberleben
man in das Weltall abheben. Auch du rotierst jeden Tag um die immer gleiche Achse, drehst dich um dich selbst und in der immer gleichen Bahn. Deine Gedanken kommen dir vor wie Planeten, die sich um deine Erde drehen, und deine Haltlosigkeiten wie missglückte Versuche, einmal anzuhalten, stillzustehen, die zu nahe in die Nähe deiner Mitte geraten und dann einfach ins All geschleudert worden sind. Diese Mitte, auf der die Oberfläche nur ein winziges Stückchen größer ist als auf dem ganzen Rest, die hast du sowieso längst verloren, die ist irgendwie überall und morgens in deinen Füßen, und abends liegt sie irgendwo zwischen deinem linken Ohrläppchen und deinem rechten Mundwinkel. Ständig bist du damit beschäftigt, die Dinge in die Nähe dieser Mitte zu rücken, in die Nähe dieser Position, in der du vermutest, dass dort vielleicht » richtig« und » genug« und » genau« liegen könnte, aber sobald du dich in der Nähe wähnst, fliegen dir diese Versuche einfach davon. Ein Paradoxon, das dir schwer zu schaffen macht.
Du weißt ja, dass du deine Mitte nicht findest. Du weißt ja, dass, wenn du sie suchst, dir die Dinge entgleiten, die Versuche einer klaren Struktur, eines geregelten Tagesablaufs, dass sie jedes Mal einfach so davonfliegen, als würde dieser Vorgang einem Naturgesetz folgen, dem du dich verzweifelt entgegenstemmst, das du aber einfach nicht zu bezwingen vermagst. Eine Sisyphos-Tortur, die schon beinahe lächerlich wirkt, die du aber immer und immer wiederholst und die im Grunde nichts anderes bedeutet als: Jeder Versuch, einen Tag so zu verbringen, dass er mit dem eines Menschen vergleichbar wäre, dem die anderen nicht raten würden, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen, scheitert schon bei dem kläglichen Unterfangen, vor dreizehn Uhr das Bett zu verlassen.
Eins
H ier liegt Müll. Seit Wochen liegt hier Müll. Hier liegen Flaschen. Seit Wochen liegen hier Flaschen. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt und lebe auf einer Müllkippe, auf der ein Bett schwimmt, in dem ich liege. Menschenmüll. Das rechte Auge nimmt den Müll wahr, das linke bleibt stoisch zu und will nicht begreifen. Will die Kopfschmerzen nicht begreifen und den Tag nicht und will nicht begreifen, was das rechte Auge schon längst sieht.
Das fahle Licht des grauen Himmels vor den Fenstern lässt erahnen, dass Morgen sein muss, dass Herbst sein muss, dass wieder eine Nacht vorbei ist in dieser Stadt, in der ich mich winde vor Langeweile und Apathie. Der Atem ist flach, und der Hals schmerzt gerade genug, um zu wissen, dass das die Zigaretten sein müssen und keine Krankheit, die verhindern könnte, was heute passieren wird. Was heute passieren muss. Was heute auf jeden Fall und unabänderlich zu dem Tag macht, an dem ich für viele Wochen zum letzten Mal in diesem Bett aufwache.
Ich halte den Kopf still, die Hände, den ganzen Körper in seiner Rückenlage und versuche, flach zu atmen. Versuche, den Schmerz, der sich langsam zwischen den Schläfen ausbreitet und bei jeder Bewegung explodieren könnte, mit diesem Ein- und Ausatmen vorsichtig in Schach zu halten. Es ist warm im Bett, viel zu warm für die Möglichkeit, dass nur ein Körper in der Lage wäre, eine solche Wärme zu produzieren. Ganz langsam, nur im Nebel einiger Sinneseindrücke, beginnt der Kopf wahrzunehmen, was das linke Auge nicht sehen wollte, eigentlich nicht sehen wollte.
Ein leises Schnarchen neben mir drängelt sich in den ansonsten völlig stillen Raum und macht deutlich, dass der Körper heute Nacht offensichtlich nicht allein gewesen ist. Ich schließe beide Augen und seufze leise, so leise, dass es einem Atemzug ähnlich bleibt. Kein weiteres Geräusch wäre jetzt erträglich, kein » Guten Morgen«, kein » Wer bist du?«, kein » Was tust du hier?«, kein » Was zum Teufel tust du hier eigentlich?«.
Wie würde die Antwort auf solche Fragen auch lauten. Im Grunde wäre nur Schweigen die richtige Antwort, die richtige Alternative zu jeder erdenklichen anderen Form des Sichrechtfertigens. Im Grunde (und das wissen mein Gewissen und mein Körper schmerzlich genau) gibt es keine einzige wohlklingende Erklärung für das, was passiert ist.
Ich hatte getrunken, und ich hatte auch etwas in meinen Drink geschüttet, womit ich sagen will, dass ich mir in Wahrheit etwas durch die Nase gezogen hatte, aber etwas in den Drink geschüttet (bekommen) klingt– seien wir ehrlich– einfach mehr danach, als träfe mich weder daran noch an allem anderen
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