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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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auch nur die geringste Schuld. Und doch war es meine Schuld gewesen, dass ich die Tabletten mit Alkohol gemischt und meinen Verstand darin so lange ertränkt hatte, bis er blau anlief und erschöpft aufgab. Ich stand in der Bar und zitterte vor Angst. Das ist die Wahrheit. Ich hatte Angst vor den Menschen, die sich um mich drängten, und ich hatte noch mehr Angst vor der Vorstellung, dass irgendwer bemerken könnte, dass ich Angst vor der Vorstellung hatte, dass jemand bemerken könnte, dass ich furchtbare Angst hatte.
    Ich war in die Bar gegangen, um Michael zu treffen, einen Bekannten, der mir am Telefon wenige Stunden zuvor versprochen hatte, den letzten Abend mit mir zu verbringen, und bei dem ich hätte wissen müssen, dass er mich versetzen würde, denn von den ungefähr zehn Malen, die wir bisher verabredet waren, hatte er geschlagene acht Mal kurz vor oder nach der verabredeten Zeit abgesagt. So stand ich um zehn nach neun Uhr allein in der Bar, spürte das Vibrieren meines Telefons in der Tasche und musste es nicht einmal herausholen, um zu wissen, wer mir geschrieben hatte.
    Die gute Nachricht war: Ich hatte somit auch das letzte Argument erhalten, mich besinnungslos zu betrinken, mich selbst dabei einsam an der Theke sitzend zu bemitleiden, und wurde dabei von absolut niemandem mahnend angeschaut, eine Rolle, die meine Bekannten in der letzten Zeit mit einem Eifer übernahmen, der mir beinahe unheimlich war. Die schlechte Nachricht: Ich war einer dieser Menschen, die sich alleine in einer Bar sehr hilflos und auch irgendwie abstoßend vorkommen, und ich kam nicht mit dem Gedanken zurecht, alleine einen ganzen Abend lang auf das sich immer wieder füllende Glas zu starren. Die trübsinnigen Gedanken, die einem dabei kommen, waren nicht das Problem. Es war eher das Bei-trübsinnigen-Gedanken-alleine-an-der-Theke-sitzen-und-dabei-von-Fremden-beobachtet-werden-Gefühl, das mir unbehaglich war.
    Ich beschloss dennoch, mich zumindest probeweise an die Theke zu setzen, und bestellte einen Gin, um herauszufinden, ob ich schon so weit war, so weit am Bodensatz meines Drangs nach Eskapismus und Verflüchtigung der Gedanken, dass ich alleine an dieser gottverdammten Theke sitzen konnte.
    Es ging erstaunlich einfach. Ich musste nicht mehr tun als trinken und starren und möglichst meinen Blick auf das Glas geheftet lassen, um nicht mitzubekommen, dass mich jemand ansah. Ohnehin kam mir der Gedanke, beobachtet zu werden, mit einem Male recht größenwahnsinnig vor, schließlich war ich nicht im Mindesten die Art Mensch, die permanent angestarrt wurde– ich war eher die Art Mensch, die sehr zufrieden mit einem Glas Gin und einer Zitrone und depressiven Gedanken sein konnte.
    Ich fand heraus, dass ich ebenfalls sehr zufrieden mit einem Glas Wodka sein konnte und dass die Wahl des Getränkes sowieso keinen Unterschied machte, solange es kein Bier war, denn mit Bier allein an der Bar, das kam mir dann doch ein bisschen bemitleidenswert vor.
    Die Angst schlich sich immer wieder zwischen zwei Schlucke und zwischen zwei Gedanken und zwischen Herz und Kopf und Lunge, aber ich schluckte sie tapfer hinunter, desinfizierte sie geradezu mit jedem Promille mehr, bis sie völlig frei war von Gedanken und Bewertungen und ich mir meine nackte, hässliche Angst ansah und sie sehr lächerlich fand. Sowieso fiel es mir in den letzten Monaten zunehmend leichter, jede aufkommende Panik so lange zu ertränken, bis sie nur noch ein fernes, weißes Rauschen war, das ich zwar wie einen störenden Tinnitus wahrnahm, bei dem ich aber durchaus in der Lage war, es zu ignorieren, solange ich nur laut genug schrie oder lange genug trank.
    Dass ich beobachtet wurde, bemerkte ich erst, als ich doch einmal einen Blick zur Seite wagte, um herauszufinden, wie viele Schritte mich von der Toilette trennten. Er stand am anderen Ende der Theke und sah unverwandt zu mir herüber, gerade so, als würden wir uns kennen. Er sah mich an, und obschon er seinen Blick nicht abwendete und ich im schummrigen Licht der Bar glaubte zu sehen, dass er nicht einmal blinzelte, nahm ich seinen Blick nicht als ein Starren wahr, sondern eher als ein Staunen. Und plötzlich stand er neben mir.
    » Ich bin Johannes.«
    » Du hast mich angeschaut.«
    » Du hast mich angeschaut.«
    » Das stimmt.«
    » Was trinkst du?«
    » Wasser.«
    » Dein Wasser riecht nach Wodka.«
    » Deine Stimme auch.«
    » Deine klingt müde.«
    » Ich bin müde.«
    » Warum bist du dann nicht zu

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