Drüberleben
mich schnell küsste, um die Stille zwischen uns vor dem Gepäck stehend nicht zu laut werden zu lassen. Ich erinnere mich an seine gierigen Hände, die den Worten allen Platz nahmen und so völlig ohne ein Zögern und ohne einen Zweifel meinen Körper ergriffen. Wie sie mich wegzogen aus dem Flur in das Schlafzimmer und wie schnell sie die Tür hinter uns schlossen.
Ich erinnere mich an diesen einen Gedanken, an diesen einen Satz, der sich in einer Endlosschleife in meinem Kopf wiederholte, einem hässlichen Mantra gleich, das ich wie besessen immer und immer wieder vor mich hin dachte: Morgen ist es endlich vorbei. Morgen ist es endlich vorbei. Morgen ist es endlich vorbei. Morgen ist es endlich vorbei.
Ich setze mich vorsichtig auf die Bettkante am Fußende und betrachte die Hinterlassenschaft einer Einzelhaft, die viele Monate gedauert hat. Die Wände haben sich beinahe unmerklich gelblich gefärbt, und es riecht nach mir, nach diesem stinkenden Wrack, das sich in seinen sechzehn Quadratmetern eine Höhle gebaut und sich selbst bewiesen hat, dass Einsamkeit auch als ein Zustand der völligen Ignoranz der äußeren Welt gewertet werden konnte; dass genau diese Ignoranz sogar die Einsamkeit zu einer erträglichen Alltäglichkeit werden lassen konnte.
Ich beobachte ihn eine ganze Weile, bis ich endlich beschließe, ihn zu wecken. Ich rüttle unsanft an seiner Schulter, bis er die Augen erschrocken aufreißt und mich irritiert ansieht. Er murmelt müde ein » Hallo« und richtet sich ein wenig im Bett auf, sodass er sich auf seinem Ellbogen abstützen kann.
» Ja, hallo«, antworte ich ihm und stehe hektisch auf. » Ich muss los. Ich muss wirklich los jetzt«, sage ich schnell und beginne, nervös an den Ärmeln meines Kleides zu zupfen.
Er sieht mich belustigt an und antwortet: » Wenn du meinst.«
Ich spüre den Graben zwischen uns, der sich zwischen Wachsein und Schlaf und wieder Wachsein aufgetan hat und der nur verdeckt war von einer dünnen Schicht aus täuschend echter Nähe und dem Wunsch, dass wir nicht zwei Fremde sind, die im Grunde keine Ahnung voneinander haben.
Aus einem versöhnlichen Bedürfnis nach einem Abschied, der nicht das fahle Gefühl von Gleichgültigkeit zurücklässt, heraus versuche ich, ihn zum Lächeln zu bringen. » Ich muss jetzt wirklich gehen. Mach einfach die Tür hinter dir zu, wenn du gehst. Und es wäre nett, wenn du meinen Computer nicht klauen würdest.«
Er sieht mich irritiert an, und ich verziehe mein Gesicht zu einem verzerrten Grinsen, das ein Lächeln imitieren soll, aber nur grotesk und wahnsinnig wirken muss.
Ich drehe mich um und sage: » Mach’s gut.«
Dann schließe ich vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer, nehme meinen Mantel und die zwei Taschen, die im Flur stehen, und verlasse den Müll, diesen ganzen verfluchten Müll, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen.
Zwei
I n der U-Bahn sitzen graue Menschen mit grauen Gesichtern und grauen Jacken. Vor dem Fenster rauschen Stadtteile und Wohnungsausschnitte wie in einem Videoclip vorbei. Manchmal kann man in die Wohnungen der Menschen sehen, und einen winzigen Augenblick befindet man sich in ihren Wohnzimmern, sieht ihre Bücherregale, ihren Esstisch, ihre unaufgeräumte Küche oder ihr nicht gemachtes Bett. Die U-Bahn fährt große Teile der Strecke überirdisch und manchmal so nah an den Häusern vorbei, dass man bisweilen sogar sehen kann, was auf den Tischen liegt und welches Muster ihre Bettwäsche hat. Ich fahre an geräumigen Wohnungen vorbei und an beengten, an leeren und an solchen, in denen Menschen gerade frühstücken. Ich denke an meine Wohnung und wie gut es ist, dass niemand von einem U-Bahnfenster einfach in mein Schlafzimmer schauen kann.
Wenn ich in diese Fenster blicke, stelle ich mir das Leben vor, das ich einmal führen könnte, würde ich in einer dieser großen, alten Wohnungen leben. Ich stelle mir vor, wie ich morgens an einem großen Tisch gesunde Dinge frühstücke, zusammen mit meinen gesunden Kindern und meinem gesunden Mann, der danach zu seinem Job mit gesunden Arbeitszeiten fährt, und ich bringe die Kinder in den Kindergarten, erledige ein paar gesunde Einkäufe und setze mich danach in mein Arbeitszimmer, um dort ein paar Texte für eine große, renommierte Zeitung zu verfassen, die unfassbar gut bezahlt werden, mache mir gesunde Gedanken, nämlich keine, hole danach die Kinder ab, und wir essen ein gesundes Mittagessen, spielen Spiele, und abends kommt der Mann von der
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