Drüberleben
Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja.
Dreiundzwanzig
D as Feuer. Die Schwaden. Die Nacht. Der Rauch, der dunkelgrau hinaufsteigt, als würde er angezogen von den Mikrostädten, in denen schon ein neues Feuer auf ihn wartet. Wir liegen in den Trümmern dieser Nacht, halten uns an den Händen und flüstern leise Worte, die die Kälte erträglicher machen. Wir zittern Vokale und atmen Konsonanten aus, weit weg von dem, das noch als Sprache verstanden werden könnte.
Ihre Haare haben sich um ihren Kopf gewickelt, wie ein Tuch, bei dem nicht zu erkennen ist, ob es sie wärmt– oder erstickt. Sie flüstert: » Ida«, und ich mahne sie zur Ruhe, bis sie erneut fragt: » Ida? Wovor verbergen wir unsere Worte?«
Ich bin außerstande zu antworten, weil mir der Mund mit süßem Sirup zugeklebt scheint, und als ich ihn mit meiner freien Hand wegwischen will, bemerke ich erst, dass es meine eigene Hand ist, die mir den Mund verklebt.
» Wenn wir keine Antworten finden, werden wir hier sterben«, sagt Julia leise und verfällt in ein beinahe stummes Weinen. Blut läuft ihr aus Mund und Nase, und als ich ihre Hand loslasse, um endlich meinen Mund zu befreien, löst sich Julias Körper einfach auf, zurück bleibt nur ein Flüstern, das mit dem Rauch im Himmel verschwindet.
Diese Stadt auf Knien plus ein paar romantische Gedanken. Dieser Kopf auf Stummschaltung minus die Möglichkeit umzuschalten. Dieses Leben plus das Gefühl, morgens aufstehen zu können. Diese Wände minus Gitter. Im Kopf. Zwischen Bauch und Kopf. Minus Gedanken. Plus Notizbücher, in denen Geschichten von Balkonen im Sommer und Tränen auf Händen erzählt werden. Wären sie nur meine. Wären sie nur echt.
Frau Wängler und ich sehen uns zweimal die Woche. Frau Wängler spricht über Möglichkeiten und über Vergangenheiten, über das Reflektieren als Gegensatz zum inneren Wirbelsturm, der im Auge immer nur sich selbst behält. Sie spricht über weitere Therapie, die notwendig sei, und ein langer Weg wäre es ja sowieso. Sie spricht über Krankheitsgewinn und über Einsamkeit, die selbstgewählt nie den richtigen auf den Thron setzt. Auf diesem Stuhl sitze nur ich und drehe mich um mich selbst, in Worten, in Gesten, in den Nächten.
Das Problem ist, dass wir allzu gern eine Lösung wünschen, die dem Ursache-Wirkung-Prinzip gefährlich gefällig ist: Ich habe ein Problem, finden Sie gefälligst die Ursache, die Wirkung sind die Monster, und die Lösung soll jetzt bitte und sofort Heilung sein. Dazwischen sitzen wir, das heißt ich, in den Therapiepraxen dieser Welt, fummeln an unseren Röcken und zurren an unseren Vergangenheiten, öffnen einen Knopf vom Hemd und ein paar Schleusen, ducken uns so gut es geht und trocknen unsere Tränen beim Verlassen der Räume für ein paar Tage oder länger– es wird schon gehen. Ich sitze zweimal die Woche bei Frau Wängler und warte auf das Zeichen, die Lossprechung, die Absolution, die erlöst, was verklemmt, verstaucht, verrenkt ist. Und nie kommt ein Wort, und nie kommt ein Satz, kommt ein Moment, der heilt– nicht hier, auf diesem Stuhl, nicht in den Zimmern, nicht in den Gängen und draußen, beim Rauchen, auch nicht.
Man könne es nicht erklären, es gäbe vielerlei Ursachen, sagt Frau Wängler, es gäbe da die Gene und dann noch die Umwelt, und es gäbe Pech und Willen, und es gäbe Selbstreflexion, es gäbe Kindheitstraumata und noch die anderen, die später folgten, es gäbe so viele Gründe für eine Depression, ob das denn überhaupt wichtig sei. Und es ist nicht wichtig, ist es nicht. Es ändert ja nichts, aber.
An diesem Nachmittag zu Beginn der sechsten Woche schließlich fragt Frau Wängler mich, ob wir einen Spaziergang machen wollen. Draußen ist November und Regen und Laub, und trotzdem willige ich ein, ja, warum nicht, und wir verlassen das Gebäude gemeinsam. Sie fragt nach dem Weg, und ich zucke mit den Schultern, und sie sagt, der Weg werde von mir bestimmt, und ich lache, ein zynisches Grunzen, weil ich im ersten Augenblick an einen billigen Trick denke, einen, der mir zeigen soll, dass nur ich allein den Weg bestimmen würde. Sie schüttelt den Kopf. Nein, sagt sie, darum ginge es nicht, es ginge um den– sie sage es gleich ganz direkt– den Weg zu Julias Grab. Ein Augenblick des ungläubigen Starrens folgt, der erst durch die empörte Frage aufgelöst wird, wie wir denn von diesem Ort zu dem Friedhof kommen sollen. » Ich habe Zeit und Geld dabei, wir können mit dem Zug fahren«, antwortet
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