Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
Vom Netzwerk:
sie ungerührt, und wir schlagen den Weg zur U-Bahnstation ein.
    Wir laufen durch feuchtes, altes Laub, das nicht beiseitegeräumt wurde, und vorbei an Menschen, die sich hinter Kapuzen und Mützen, Schals und Handschuhen verstecken. Es ist fast null Grad, noch zu früh für Schnee, aber sein Geruch hängt schon in der trockenen Luft, die schmerzhaft unsere Nasen und Ohren rötet.
    » Wie fühlen Sie sich?«, fragt Frau Wängler, und ich bleibe stehen und fühle heiße Tränen heraufsteigen, bei denen ich mich sofort frage, ob sie wohl zu Eiszapfen werden, zu Gebilden aus Kristallen, die sie ja eigentlich auch sind.
    » Wir müssen zurückgehen.«
    » Warum?«
    » Weil wir nicht zu ihrem Grab fahren können.«
    » Warum nicht?«
    » Weil es zu weit ist.«
    » Wie weit?«
    » Sehr.«
    » Präzisieren Sie sich, bitte.«
    » Zu weit.«
    » Gut. Wohin möchten Sie gehen?«
    » Zurück«, sage ich schon im Gehen begriffen, und wir machen uns auf den Rückweg zur Klinik.
    In ihrem Zimmer angekommen nehmen wir die vertrauten Sitzpositionen ein, und Frau Wängler wartet darauf, dass ich beginne, dass ich etwas sage und mich erkläre.
    » Also, erstens ist Julias Grab in meiner Heimatstadt. Und die ist eine Stunde entfernt. Und zweitens möchte ich nicht dorthin.«
    » Warum nicht, Frau Schaumann?«
    » Weil ich nicht in diesen Ort fahren möchte und weil ich ihr Grab nicht sehen möchte.«
    » Dafür hätte ich gerne eine Erklärung«, fordert sie und verschränkt die Arme.
    Ich schweige.
    » Nun gut, ich sage es mal direkt: Ich glaube, Sie haben Ihre Freundin Julia erfunden.«
    » Das ist ja lachhaft«, stoße ich hervor, » wer sollte denn so etwas tun? Und warum? Das ist doch völlig absurd, Ihre Unterstellung.«
    » Glauben Sie mir, ich habe schon so einiges gesehen. Unter anderem auch immer wieder Patienten, die Wahnvorstellungen nachhängen oder einfach auch nur lügen, um sich oder andere zu schützen. Da ich Sie nicht als wahnhaft empfinde, gehe ich davon aus, dass Sie mir einfach die Wahrheit verschweigen.«
    » Julia ist tot«, beharre ich.
    » Und warum wollen Sie dann nicht, dass wir ihr Grab besuchen?«
    » Sie ist tot«, wiederhole ich zwanghaft.
    » Frau Schaumann: Warum wollen Sie nicht, dass wir Julias Grab besuchen?«
    Der Morgen, an dem das Telefon klingelte und meine Mutter blass wurde, der Morgen, an dem ich diese bunten Getreideringe in der Schale schwimmen sah und daran dachte, wie wunderlich es bleibt, dass Menschen bunten Zucker mit Milch mischen, um so etwas Frühstück zu nennen. Der Morgen, an dem ich daran dachte, wie trübsinnig eigentlich jeder Gedanke sein kann, wenn er mit » ich kann nicht« anfängt und wenn er sich nicht zusammennehmen kann, dieser Gedanke, wenn er sich nicht davon abhalten kann abzudriften, wegzuschwimmen in einem Meer aus Selbstmitleid.
    Dieser Morgen, an dem die Tür zu unserem Wintergarten weit geöffnet war, um die letzte warme Luft des Sommers hineinkriechen zu lassen, bevor wir uns für ein paar Monate in den Häusern und Betten verstecken mussten, bis es wieder Frühling war. Der Blick meiner Mutter. Das Zittern ihrer Hände. Die Schnur des altmodischen Telefons, weil meine Brüder sie überzeugt hatten, dass nicht jede technische Errungenschaft nützlich sei. Diese Schnur, die sich immer wieder um sich selbst wickelte. Der Kaffeefleck auf dem Teller, auf den ich den Löffel gelegt hatte. Der braune Zucker, den mein Vater hasste. Der Morgen, an dem ich aufstand und den Telefonhörer in die Hand nahm und verwundert meiner Mutter hinterhersah, die sich eine Hand vor den Mund presste und davonging. Der Morgen, an dem nicht Julia, sondern ihre Mutter am Telefon war.
    » Ida, was verschweigen Sie mir?«
    Der Morgen, an dem ich aus dem Haus stürzte und beinahe hinfiel. Der Morgen, an dem ich an dem Schloss meines Fahrrads riss, damit es sich endlich von den Speichen löste und ich es herausziehen konnte. Der Morgen, an dem mein Vater aus dem Haus kam und mich nur stumm ansah. Das Quietschen des Tores, das hinter mir zufiel. Mein Name aus Vaters Mund. Die Bäume, die das Sonnenlicht stroboskophaft auf meine Unterarme warfen und rauschten, als imitierten sie ein Meer, das weit weg lag. Die Ampeln, die alle auf Rot schalteten, wenn ich in ihre Nähe kam. Die Kinder, die auf den Straßen spielten und ihre Bälle in die Hand nahmen, bis ich vorübergefahren war. Der Schweißfilm auf meiner Stirn, der keine Tropfen bildete. Das Würgen. Das Krampfen im Magen.
    » Ida?«
    Die

Weitere Kostenlose Bücher