Drüberleben
Laterne, unter der der Stromkasten stand. In deren Lichtkegel wir billigen Wein getrunken und trockenen Tabak geraucht hatten. Unter der wir gesprochen hatten. All die Nächte. All die Nächte. All diese Nächte. Die Schule, vor deren Eingangspforte wir uns jeden Morgen getroffen hatten. Die Gesichter, die an mir vorbeirauschten. Die Bank. Der Kleiderladen. Der Park. Die rote Ampel. Die lange Straße. Der Baum. Die Eingangstür. Das Gesicht ihrer Mutter. Ihr Atem voller Alkohol. Dunkelheit im Wohnzimmer. Der Fernseher lief stumm. Eine Wiederholung der Wettsendung. Der Vater schlafend davor. Die Gläser und Flaschen auf dem Wohnzimmertisch. Die Küche, in die sie mich zog. Ihre Worte zehnmilliardentonnenschwer. Das Muttermal auf ihrem Kinn, das zitterte bei jedem Wort. Das feuchte Taschentuch. Und ihr Atem, immer wieder dieser Atem, der die Worte herausschleuderte. Worte, die ich niemals hören wollte.
» Ich werde hier sitzen bleiben, bis Sie mir geantwortet haben, Frau Schaumann.«
Der Anblick von Erbrochenem in der Kloschüssel. Der Duft von Vanille aus dem Seifenspender. Das Handtuch, das seit Wochen nicht gewechselt wurde. Meine kalte Stirn an den Fliesen und ungläubige Augen, die jemanden anstarrten, der nicht mehr ich war.
Wir hatten darüber gesprochen. Wie so viele andere auch. Hatten in den Nächten unter der Laterne darüber gesprochen und in ihrem Zimmer, in dem wir rauchen durften. Wie das sei. Wie es am besten funktionieren könnte. Ob wir in der Lage dazu wären. Was die anderen sagen würden. Wir lachten. Was die anderen sagen würden. Wer würde kommen? Und wer nicht? Wir hatten uns geschworen, mit niemandem darüber zu sprechen. Kein Wort. Ein Geheimnis zwischen Schwestern, ein Bund, ein Wort.
Es war verlockend gewesen, all dieses Gerede. Aber es hätte bloß eine Anekdote bleiben können. Manchmal lasen wir in Büchern darüber. In der Schule reichte sie mir manchmal unter dem Tisch kleine Notizzettel, auf denen sie mir Fragen aufgeschrieben hatte. Wenn ich sie nicht zu ihrer Zufriedenheit beantwortete, warf sie mir einen enttäuschten Blick zu und gab mir am nächsten Tag das Buch, in dem sie die Stellen markiert hatte, die zu den » richtigen Antworten« führen sollten.
Es war doch nur Gerede. Es waren doch nur pubertäre Spielereien eines Konjunktivs gewesen, dessen Unwahrscheinlichkeit mich schlafen ließ, mich essen und atmen ließ, der mich keinen Gedanken daran verschwenden ließ, ob es jemals wirklich geschehen konnte.
Sie hatte sich keine Tabletten besorgt und sich auch nicht die Pulsadern aufgeschnitten. Sie hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen und zu niemandem ein Wort gesagt. Sie hatte einfach die Pistole ihres Vaters genommen und…
» …sich umgebracht.«
» Bitte?«, fragt Frau Wängler.
» Sie hat sich erschossen. Julia hat sich umgebracht. Sie ist nicht bei einem Autounfall gestorben. Sie hat sich erschossen, und das war’s. Kein Autowrack, keine unterlassene Hilfeleistung, nichts. Sie hat einfach beschlossen, sich in den Kopf zu schießen.«
Wängler schweigt einen Moment und reibt sich nachdenklich die Hände. Dieses Schweigen scheint sich von den anderen zu unterscheiden. Es ist kein Schweigen, das auf eine Aktion, ein Wort, eine Antwort von mir wartet. Es ist ein Schweigen, das auf die Gedanken wartet, die hinter ihren undurchdringlichen Augen rasen. Sie wartet auf den Moment der Sicherheit, in dem jede Reaktion, die sie mir zuteilwerden lässt, als » angemessen«, als » richtig« zu werten ist. Sie schweigt lange.
Dann sagt sie: » Erzählen Sie, bitte. Ich würde es gerne verstehen.«
Am späten Morgen kehrten Julias Eltern aus dem Krankenhaus zurück und riefen mich an, um mir die Wahrheit zu sagen, denn sie hatten beschlossen herauszufinden, wer daran Schuld trug, dass ihre Tochter tot war. So stand ich in ihrem Wohnzimmer und sah mich einem Kreuzverhör ausgesetzt, an dem auch der zuvor noch schlafende Vater rege teilnahm.
Habt ihr Drogen genommen. War Julia schwanger. Wart ihr lesbisch. Habt ihr Probleme in der Schule gehabt. Habt ihr Alkohol getrunken. Habt ihr Joints geraucht. Diese Musik, die ihr immer gehört habt, diese Musik. Habt ihr ein Verbrechen begangen. Hat sie etwas angekündigt. Was weißt du. Habt ihr Sex gehabt. Habt ihr mit Jungs geschlafen. Habt ihr Tabletten genommen. Habt ihr Pillen geschmissen. Habt ihr euch nicht sicher gefühlt. Wurdet ihr ausgeschlossen. Seid ihr mit einem Lehrer nicht zurechtgekommen. Ist Julia vergewaltigt
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