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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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rauchen schweigend selbstgedrehte Zigaretten und trinken Tee, der die Kälte, die mittlerweile unter unsere Jacken gekrochen ist, kaum erträglicher macht.
    » Ida, was ich dir über Isabell erzählt habe…«, beginnt er stockend, und ich wiegele ab.
    » Ich will das nicht hören, Simon. Diese ganzen Gerüchte und Vermutungen hier. Das interessiert mich alles nicht.«
    » Du solltest aber vorsichtiger sein. Sie hat merkwürdige Dinge über dich erzählt.«
    Ich horche auf.
    » Sie hat mir letztens gesagt, dass du glaubst, dass ihr Seelenverwandte seid. Und dass sie sich deshalb bedrängt fühlt…«
    Ich starre ihn ungläubig an.
    » Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich schätze dich nicht so ein«, antwortet er auf eine Frage, die ich nicht gestellt habe, die mir aber brennend durch den Kopf lief, bis ein kalter Atemzug sie gelöscht hat.
    » Ich glaube, ich sollte dir etwas erklären«, fährt er fort, » etwas über bestimmte Menschen. Es gibt Menschen, die sich helfen lassen, und welche, die nur so tun, als würden sie Hilfe wollen. Isabell will nicht wirklich gesund werden. Sie ist eines dieser Mädchen, die ihre Neurosen abfeiern wie andere ihre Geburtstage. Sie mag sich im Grunde so, wie sie ist. Sie will Künstlerin sein, was immer das auch bedeuten soll. Und das alles, ihre Launen, ihr übertriebenes Auftreten, das alles ist nur Attitüde, eigentlich sogar Plattitüde, die sie anzieht wie Kleider, die gerade zum jeweiligen Anlass passen.«
    Ich denke über seine Worte nach und gleiche sie erneut mit der Person ab, mit der ich mir seit Wochen ein Zimmer teile und die einen eklatant anderen Eindruck auf mich gemacht hat.
    » Warum erzählst du mir das? Und woher soll ich wissen, dass das stimmt? Du kannst genauso durchgedreht sein, wie du behauptest, dass sie es ist. Warum hast du zum Beispiel als Einziger ein Einzelzimmer?«
    Von all den möglichen Reaktionen, die ich erwartet hatte, wählt er die unwahrscheinlichste. Er lacht nicht, er steht nicht auf und geht, er weint nicht, schreit nicht, lässt sich keine Ausreden einfallen. Er erzählt es mir einfach. Erzählt von den Träumen, die die Ärzte nicht in den Griff bekommen– nicht mit Schlaftabletten, nicht mit Antipsychotika, nicht mit gutem Zureden. Er erzählt von den Tieren, die ihn jagen, die ihn zerfleischen, die ihn ausweiden und in den Wäldern zurücklassen. Davon, wie er selbst zu solch einer Gestalt wird, wie er mit ihnen Menschen jagt. Wie er sie riecht, in den Städten, in den Häusern, in ihren Betten liegend. Wie er seine Mutter tötet, seinen Vater, wie er sich weidet an ihrem Blut. Er berichtet von den Schreien, die seine eigenen sind und die ihn erst aufwecken, wenn Madame Blohm schon im Zimmer steht, und von den Jahren, in denen niemand im Zimmer stand, um ihn aufzuwecken. Von den weit aufgerissenen Augen seiner Freundin, wenn er sie packte, sie würgte und versuchte, sie aus dem Bett zu zerren, noch ganz im Wahn seiner Gedanken, im Albtraum seiner Nächte.
    Er spricht ruhig und ohne Pausen zu machen, nur wenn er dann und wann einen Zug von seiner Zigarette nimmt, hält er inne, um gleich danach fortzufahren.
    » Warum träumst du so etwas«, sagt er, » das habe ich mich jahrelang gefragt. Warum bist du so ein kaputter Idiot, der solche Dinge träumt. Warum schläfst du dauernd in der Schule ein? Ich habe die Spiele und die Filme weggeschmissen. Edgar Allan Poe. Die ganzen Bücher. Ich habe nur noch Reiseberichte gelesen. Ich habe keine Hunde angefasst und bin nicht mehr im Wald laufen gegangen. Ich habe mir kein Futter mehr gegeben. Aber es war, als würde mein Kopf, je mehr ich ihm diese Dinge entzog, sich immer nur noch weiter in die Träume stürzen, wie in tiefe Schluchten, in die nie Licht fällt. Die Ärzte dachten, das ginge vorüber. Nach der Pubertät. Nach dem Abitur. Als die Prüfungsphase erst mal überstanden war. Aber es ist immer weitergegangen. Irgendwann habe ich nachts meine Freundin mit einem Messer angegriffen. Ich habe versucht, ihr den Arm abzuschneiden, weil ich dachte, dass das Wurzeln seien zu einem Versteck, in das ich mich verkriechen konnte. Sie musste genäht werden, es war nicht so schlimm. Aber die Ärzte dort haben die Polizei informiert. Weil sie geglaubt haben, ich hätte meiner Freundin absichtlich etwas antun wollen. Und ich hatte keine Wahl mehr danach. Entweder hierher oder…«
    » Das erklärt aber alles nicht, warum du zu niemandem freundlich bist. Warum du kein gutes Wort verlieren

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