Drüberleben
ist mir egal. Geh zu der Party, hab Spaß, aber ohne mich. Ich gehe da nicht hin. Ich gehe da deshalb nicht hin, weil ich nicht eingeladen wurde. Wie immer. Ich wurde noch nie von denen zu irgendwas eingeladen. Und zwar von Anfang an nicht. Und weißt du auch, was der Grund dafür ist? Der Grund bist du. Und das weißt du auch.«
Den letzten Satz schrie ich beinahe, und Julia wich zurück. Sie starrte mich einen Moment lang an, und ich sah, dass sie nach Widerworten suchte. Dann gab sie auf.
» In Ordnung, ich werde nichts mehr sagen.«
Sie schwang sich zurück auf den Kasten, und ich setzte mich neben sie. Wir schwiegen den Rest des Nachmittags, bis sie nach Hause musste. Wir verabschiedeten uns beinahe wortlos, dann verschwand sie mit den anderen Menschen zwischen den Geschäften der Einkaufsmeile.
Ich hatte Julia kennengelernt, als gerade eine kurz zuvor geöffnete Flasche Cola ihren Kopf getroffen hatte, deren Inhalt sich größtenteils auf ihr Gesicht verteilte. Der Rest ergoss sich auf den Boden des Klassenraums. Gelächter. Lautes, schrilles Gelächter. Ihre Haare waren klebrig feucht. Die bräunliche Flüssigkeit rann ihr die Stirn hinunter, in die Augen, über das Kinn. Ihr Körper bebte, und sie hatte die Augen weit aufgerissen. Die Cola mischte sich mit durchsichtigen Tränen und wurde zu einer hellbraunen, durchsichtigen Ekelhaftigkeit, die sich jetzt auch auf ihrem Pullover und ihrer Hose verteilte. Sie drehte sich weg. Ganz langsam. Bückte sich, nahm die Flasche vom Boden, ging zum Mülleimer an der Tür, warf sie hinein und verließ den Raum. Die Tür schloss sich, und ein Sturm brach aus. Ein Sturm aus Gehässigkeiten, Kommentaren und Gelächter, der erst abebbte, als sich die Tür wieder öffnete und die Lehrerin erschien, die alle zur Ruhe mahnte. Sie setzten sich. Meine Beine knickten nicht ein, sie liefen los. Immer schneller, vorbei an den erstaunten Augen der Lehrerin, vorbei an dem Mülleimer mit der leeren, verklebten Flasche, raus aus dem Klassenzimmer, über den Gang bis zu den Toiletten, aus denen ich ein leises Weinen hörte. Weinen und das Rauschen von Wasser. Ich öffnete die Tür, und da stand sie, wusch sich das Gesicht und die Flecken aus dem Pullover und weinte.
Es sind nur fünf Minuten bis zu ihrem Elternhaus. Nur vier Minuten, bis ein Fußgänger die Innenstadt durchschritten hat. Ein paar Bekleidungsgeschäfte, ein paar Eisdielen, Cafés und Haushaltswarenläden. Alle Supermärkte haben sich quer durch die Stadt verteilt– hier sind nur die Läden geblieben, die nicht mehr das Notwendige, aber das Nötigste anbieten.
Ich bewege mich im Strom, der sich in vielen kleinen Nebenarmen in die Geschäfte ergießt, während ich stoisch geradeaus blicke und mein Kopf meinen Füßen zu folgen scheint, die nur eine Richtung vorgeben: zu ihrem Haus, zu ihrem Zuhause, das es mal war, das es mal gegeben hat. Dieses Zuhause, das schon ein Sarg war, als sie noch gelebt hat, das sie lebendig begrub in seiner ganzen Schwere, in der Last, die sie fortwährend von dort nach draußen tragen musste und zurück, um unter Schlägen noch mehr zu tragen.
Nach wenigen Minuten liegt die Innenstadt hinter mir, und eine Straße weiter taucht ihr Hausauf, das ich nicht mehr betreten habe, seit wir bei Kaffee und Kuchen über ihren Tod sprachen, am Morgen nach der Beerdigung. Auf dem schwarzen Dach haben sich wie üblich die Tauben versammelt, die wir von ihrem Fenster aus manchmal hören konnten. Das Haus ist aus grauem Backstein und sieht aus wie das, was es war: eine Festung, aus der kein Laut nach außen entwich, eine Falle für jene, die darin saßen und sich wünschten, das Haus und alle seine Bewohner möge einfach eines Nachts abbrennen.
Und tatsächlich war selbiges einmal beinahe passiert, als Julias Vater betrunken und spät nachts auf dem Sofa im Erdgeschoss eingeschlafen war, den brennenden Zigarillo zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt. Der Brand hatte den Feueralarm ausgelöst, und als Julia von dem Geräusch erwacht war, war ihre erste Emotion keine Panik, sondern unendliche Erleichterung gewesen: Endlich würden sie alle verbrennen, ersticken oder verbrennen. Als ihre Mutter die Tür aufriss, lag Julia noch immer ruhig im Bett und wartete. Die Mutter schrie, dass sie rennen solle, und lief dann selbst ins Erdgeschoss, wo sie einen schlafenden Mann entdeckte, der auf einem Sofa mehr lag denn saß, unter seinen Füßen ein brennender Teppich. Sie schrie weiter, rüttelte am Arm
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