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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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vorbeieilte. Julia gab den fremden Menschen Namen, und ich dachte mir Geschichten zu ihren Gesichtern aus, zu ihren Mänteln und Tüten voller Zeug, die sie aus der Innenstadt hinaustrugen. Manchmal beschäftigten wir uns so lange mit den Menschen, bis wir glaubten, sie zu kennen, und sie beim nächsten Mal grüßten. Unseren Fehler bemerkten wir erst, wenn wir in ein erstauntes Gesicht blickten, das fieberhaft nachdachte, woher es uns kennen könnte.
    Vier Jahre verbrachten wir auf diesem Stromkasten, sahen den Menschen zu und sahen uns selbst dabei zu, wie wir älter wurden, wie wir Pickel bekamen und zum ersten Mal Make-up trugen, wie wir Mädchen wurden, die sich plötzlich Gedanken über ihr Aussehen machten, wie wir uns Textnachrichten zeigten, die uns Jungs geschickt hatten, in die wir verliebt zu sein glaubten, nur um einige Wochen später an der gleichen Stelle mit der gleichen Heftigkeit das Gegenteil zu bekunden. Wir saßen dort im Sommer und im Winter, egal wie warm oder kalt es war, es war unser Treffpunkt, unser Platz– ein alter Stromkasten, auf dem nie jemand saß, wenn wir es nicht taten.
    Als ich an dem Kasten vorübergehe, bleibe ich einen Moment stehen und sehe uns beide im Sommer in kurzen Hosen und ausgewaschenen T-Shirts dort oben sitzen und schweigen. Es war unser erster richtiger Streit, an einem Tag, der eigentlich schön werden wollte: Die Sonne schien, es war warm, und wir hatten uns Eis gekauft und uns an unsere Stelle gesetzt.
    » Ich gehe morgen auf diese Party. Bei Mira«, sagte Julia beiläufig.
    Ich erstarrte und schwieg.
    » Du kannst auch mitkommen, es hat bestimmt keiner etwas dagegen«, fügte sie schnell hinzu.
    » Natürlich hat überhaupt niemand etwas dagegen, wenn ich auf Miras Party zu Gast bin, Julia. Niemand außer Mira und Carmen und überhaupt allen Anwesenden.«
    » Ich habe keine Lust mehr, dauernd alle zu meiden, nur weil du nicht mit ihnen zurechtkommst. Ich will nicht mehr so alleine sein, Ida. Ich fühle mich einsam, wenn du mal nicht da bist oder keine Zeit hast. Und ich verstehe mich gar nicht so schlecht mit Mira. Sie ist nett, wirklich nett. Sie ist nicht so schlimm wie die anderen. Und eigentlich…«
    » Was, eigentlich?«, fuhr ich sie an.
    » Eigentlich sind es die anderen auch nicht.«
    » Was sind die anderen nicht? Die anderen sind gar nicht so gemein, wenn man sie erst mal besser kennt? Die anderen haben nicht all die Sachen gemacht, von denen mir heute noch schlecht wird? Die anderen haben uns nicht jahrelang ignoriert?«
    » Dich, Ida, dich haben sie ignoriert«, antwortete Julia leise. In ihrem Gesicht fand ich Scham, aber auch Trotz: einen Trotz, den ich kannte. Es war der gleiche, den ich in ihrem Gesicht finden konnte, wenn ich sie davon zu überzeugen versuchte, dass sie von ihrem Vater flüchten müsse. Dass sie ihre Mutter nehmen und ihn und die ganze klägliche Scheiße verlassen müsse. Es war der Trotz einer Tochter, die trotz allem noch Liebe zu ihrem Vater empfand. Es war der Trotz eines Mädchens gegen ein Leben, das ihm permanent Dreck in die Augen zu werfen schien. Sie hielt die Augen weit geöffnet und die Fäuste geballt.
    » Dann geh hin. Ich komme nicht mit.«
    » Warum kannst du nicht einfach damit aufhören?«, fragte sie wütend.
    » Weil ich das nicht vergessen kann.«
    » Was? Dass sie dich einfach nicht mögen? Schon mal überlegt, woran das liegen könnte?«
    » Ja, Julia, ich liege jede Nacht wach und weine in mein Kopfkissen, weil ich so traurig bin, dass diese Mädchen mich nicht liebhaben.«
    » Ironie, wie immer. Das kannst du am besten. Wenn es darum geht, dass du vielleicht auch etwas falsch gemacht haben könntest, dann wirst du ironisch.« Sie sprang vom Kasten und baute sich vor mir auf. » Weißt du, was der wirkliche Grund ist? Sie mögen dich nicht, weil du sie nicht magst. Seit wir mit ihnen in einer Stufe sind, führst du dich auf, als wärst du das arme, einsame Mädchen, das keiner versteht. Belächelst alles, was sie machen. Und hängst dich an Peer und Sebastian, weil du es schicker findest, dich mit Jungs zu umgeben. Aber ganz ehrlich: Du bist nicht so viel anders als die anderen. Das Problem ist nur, dass du das gerne sein möchtest, damit niemand merkt, dass du eigentlich Angst davor hast, dass du genauso bist wie alle anderen.«
    Ich sprang mit einem Satz vom Kasten, und so standen wir uns sehr dicht gegenüber. Wir sahen uns wütend in die Augen.
    » Ok, es ist mir egal, was du machst. Hörst du? Es

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