Drüberleben
Spiegel, den ich ansonsten mied, eine Metapher der Statik, die ich sonst nicht spüren konnte.
Die Augen geschlossen liege ich noch eine Weile in dem warmen Bett, bis das Gefühl verklungen ist und ich weiß, dass für sein Verschwinden einzig das Flüchten sorgen kann, das Aufstehen, das Anziehen, das Hinausgehen und das schleunige Verlassen dieser Quadratmeter.
Ein paar Minuten später schon finde ich mich vor dem Spiegel des Badezimmers auf derselben Etage wieder und schmiere mir bräunlich beige Masse unter die Augen, damit niemand sehen kann, wie die durchscheinenden Blutgefäße von dieser Nacht erzählen, die zwar eine Befreiung, jedoch keinen rechten Schlaf brachte.
Die Stufen ins Erdgeschoss renne ich beinahe hinunter, vorbei an meiner Mutter, der ich eilig zurufe, dass ich nach draußen gehe, » spazieren« oder etwas Ähnliches, ganz egal, bloß raus, raus, raus aus diesem Haus.
» Ida, wir haben noch etwas für dich! Wie lange bist du denn noch hier?«, ruft meine Mutter meinem Rücken hinterher, der schon fast in der Haustür verschwunden ist.
Ich drehe mich noch einmal um und starre in ihr freundliches Gesicht, das immer nur Verständnis und Fürsorge in meine erstarrten Züge zu schmeißen scheint mit all seinen guten Worten und Ratschlägen und Bitten und Aufforderungen, und ich ziehe die Schultern hoch: » Ich weiß es noch nicht, heute Abend fahre ich, oder so, ich muss noch einen Zug raussuchen, irgendwann heute Abend, Mama.«
Dann bin ich endlich draußen.
Achtundzwanzig
D ie Straße neben dem Haus führt in zwei Richtungen: in den Wald und in die Stadt. Ich laufe in Richtung Innenstadt, die hier eine Einkaufsmeile ist mit Geschäften, die sich in den letzten Jahren kaum verändert haben.
Nach ein paar Minuten erreiche ich zunächst die alte Schule, die grau und leer hinter verschlossenen Gittern liegt. Es ist halb zwei am Nachmittag, alle Schüler sind längst zu Hause oder auf dem Sportplatz ein paar Kilometer weiter, um den nachmittäglichen Sportunterricht zu absolvieren, dem ich mich, sooft es eben möglich war, entzogen hatte.
Jedes Leben ist Erinnerung, jeder Moment schon im nächsten Vergangenheit. Wäre der Mensch ein Haus, so wären die Erinnerungen das Dekor und die Wandfarbe. Erinnerungen sind aber nicht nur Vergangenheit: Sie leben immerfort in jedem Einzelnen weiter, bestimmen die Art seiner Beurteilung, seine Wahrnehmung, seine Intuition, meine Vorliebe für frisch gebackenes Brot. Ich erinnere mich an den Sportplatz. An Carmen, an den Ball und die Mädchen. Und an mich inmitten dieses multimedialen Ereignisses meiner Sinne.
» Ich will das nicht.«
» Warum nicht?«
» Ich will das hier einfach nicht. Nicht mit dir. Jetzt guck mich nicht so an, ich will dich ja nicht persönlich angreifen, aber du nervst.«
» Wow, das ist also kein persönlicher Angriff, du nervst ist also nicht persönlich gemeint.« Ich drehte mich um. Durch die großen Eichen schien die hochstehende Sonne, und ich kniff unwillkürlich die Augen zusammen, vielleicht wegen der Tränen, vielleicht wegen der Sonne.
» Ida, können wir das jetzt einfach hinter uns bringen? Der Schubert schaut schon rüber.«
Wieder drehte ich mich, drehte mich jetzt in die andere Richtung, alles drehte sich sowieso, drehte sich vor Wut und Fassungslosigkeit, drehte sich viel schneller, als ich mich drehen konnte, und schien zu schreien, dass die beste Lösung war, sich jetzt verdammt noch mal zusammenzureißen, so sehr zusammenzureißen, dass ich den Ball aufhob und ihn in die Hände nahm, ihn über meinem Kopf in die Luft warf und ihn mit einem heftigen Schlag in ihre Richtung schmetterte. Getroffen.
» Spinnst du?«, schrie sie und rieb sich die Stirn. Mit theatralisch schmerzverzerrten Augen funkelte sie mich an. » Du findest das witzig, ja? Ich wusste es. Immer, wenn man sich mit dir abgibt, passiert so etwas.«
» Falsch. Immer, wenn man mich beleidigt, passiert so etwas. Außerdem wolltest du doch anfangen, Carmen. Du hast gesagt, dass der Schubert schon herschaut. Also habe ich angefangen. Du weißt ja selbst nicht, was du willst.«
Sie schrie, schrie ein langgezogenes U. Das U der Sarkastischen, das U der Mädchen dieser Schule, die immer » uuuuuuu« sagten, wenn ihnen keine Konsonanten mehr einfielen, die sich um das U gruppieren konnten. Sie sagte: » Uuuuuuuuuu.« Und dann: » Sind wir jetzt beleidigt?«
» Ich sehe nur eine, die hier beleidigt ist«, sagte ich, schon im Gehen begriffen, weil
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