Drüberleben
Schubert in seine Trillerpfeife blies und uns zusammenrief. Die 90-minütige Tortur war vorüber.
Jeder Kopf trägt ein Ungeheuer in sich, aber manche Köpfe sind Festungen voller Monster, aus denen Worte wie Pfeile regnen, die mich treffen könnten, hätte ich nicht gelernt, mich zu ducken, mich zu verstecken, mich schneller zu bewegen, bis sie von mir abließ.
Ich betrachte die Schule lange. Das Fenster im zweiten Stock. Das dritte von rechts. Ich saß ganz hinten links, direkt an diesem Fenster und sah den Jahreszeiten zu, die mir wie eine Kulisse vorkamen, die stetig wechselte, während drinnen nur Zeit verstrich, die völlig ohne Bedeutung war.
» Frau Schaumann, bitte.«
Ich hatte aufgezeigt, weil ich etwas sagen wollte, das provokant und irgendwie klug klingen sollte, aber nur der verzweifelte Versuch war, mich von etwas abzuheben, dem ich genauso angehörte wie jede andere Figur in diesem Mikro-Theaterstück.
In jeder Stufe gibt es eine Rollenverteilung, die sich im Grunde kaum von einer Ressourcenverteilung unterscheidet. Die Ressourcen sind: Anerkennung, Bekanntheit, Ansehen, Freunde, jedwede Form sozialer Interaktionen. Und damit ergibt sich folgende Gleichung: Je größer die Rolle der Person, desto mehr Zugriff auf die Ressourcen, desto mehr Macht.
Carmen war eine Hauptrolle. Sie war beliebt, schien jeden in der Oberstufe zu kennen, man sah zu ihr auf, sie hatte unzählige Freunde und Bekannte und führte immerzu Gespräche mit jedem. Mit jedem außer mir. Carmen hatte sich dazu entschieden, dass meine Rolle die einer Statistin in ihrer ganz privaten Horrorshow war: Ich war alles, was Carmen hasste. Sie hasste die Art, wie ich mich kleidete, sie hasste die Art, wie und über was ich sprach, sie hasste die Musik, die ich hörte, und sie hasste meine Anwesenheit. Carmen war die Großmacht und ich das Entwicklungsland. Carmen besaß 99% aller möglichen Anteile an sozialen Ressourcen, und ich besaß eine Schaufel, mit der ich versuchte, mir ein Loch zu graben, in dem sie mich nicht finden konnte.
Zu der Verteilung gehörte aber auch, dass die Hauptrollen die Statisten als solche behandeln mussten, damit die Relation blieb, wie sie war. Und sowohl Carmen als auch alle ihre Freundinnen hatten ein übersteigert großes Interesse an der Stabilität dieser Verhältnisse. Bewusst oder unbewusst: Sie taten alles dafür, mir zu suggerieren, dass mein Anteil an möglichen Gewinnen so klein war, dass ich mich auch gleich hätte erschießen können.
Ich war damit nicht einverstanden. Ich war damit so wenig einverstanden wie mit der Tatsache, dass ich zu diesem Theater einzig aus einem Grund gehörte: Zufall. Es war Zufall gewesen, dass Carmen oder eines der anderen Mädchen einer Mode entsprachen, die damals angesagt war. Dass sie die Dinge sagten, die die anderen hören wollten. Dass sie beliebt waren. Und ich unbeliebt. Ich war eine Außenseiterin. Das Mädchen, mit dem man sich nicht sehen ließ, das Mädchen, über das die abstrusesten Geschichten kursierten, Geschichten, die aus den Mündern der anderen fielen wie Erbrochenes, dessen Geruch ich mir nicht abwaschen konnte. Ich war Ida Schaumann, die Ida, die weder Freunde noch gute Bekannte hatte. Einzig Julia, Sebastian und Peer hatten sich diesem Theater entzogen. Doch Sebastian und Peer hatten angefangen, sich nur noch außerhalb der Schule Freunde zu suchen, und Julia hatte sich erschossen. Nur ich war geblieben, und ich hatte alle Stadien durchlaufen: Ich hatte die anderen ignoriert, dann hatte ich versucht, ihnen zu gefallen, dann hatte ich versucht, sie zu überzeugen, dann hatte ich aufgegeben.
Nach ein paar Minuten habe ich die Innenstadt erreicht. Die Straßenkreuzung, an der Julia und ich uns immer getroffen hatten, zeigt den Beginn der Fußgängerzone an. In vier Richtungen führen Straßen von der Kreuzung ab: Eine wird zur Fußgängerzone, eine führt zurück zur Schule, eine führt zum Bahnhof und eine in die Wohnstraßen, die die Innenstadt umgrenzen.
Dort, wo die Einkaufsmeile beginnt und die Straße endet, genau dort steht noch immer der Stromkasten, auf dem wir stundenlang saßen und die Menschen betrachteten, die an uns vorübergingen. Diese Menschen, von denen wir so viele kannten, einfach, weil die Stadt so klein und die Zeit, die wir hier verbracht hatten, so groß war. Manchmal grüßten wir, und manchmal kommentierten wir den ewigen Menschenfluss zwischen neun Uhr morgens und sechs Uhr abends, der an dieser Stelle unermüdlich
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